Peter Hoeg
die Augen dieser Jungen sind ebenfalls Tunnel, an deren Ende das Narwaljunge ist, dessen Blick wiederum nach innen und weg fuhrt. Ganz langsam drehe ich den Kescher um, in einer kurzen Lärmexplosion steigen die Vögel in die Luft.
Meine Mutter sitzt ganz still direkt neben mir. Sie schaut mich an, als sähe sie etwas zum erstenmal. Ich weiß nicht, was mich zurückhielt. Mitleid ist in der Arktis keine Qualität, sondern eher eine Art Fühllosigkeit, das fehlende Gespür für die Tiere, die Umgebung und das jeweils Notwendige.
»Smilla«, sagt sie, »ich habe dich im amaat getragen.«
Es ist Mai, ihre Haut hat einen dunkelbraunen, tiefen Glanz, wie ein Dutzend Firnisschichten. Sie trägt goldene Ohrringe und um den Hals eine Kette mit zwei Kreuzen und einem Anker. Das Haar hat sie im Nacken zum Knoten aufgesteckt, sie ist groß und schön. Noch jetzt ist sie, wenn ich an sie denke, für mich die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Ich muß um die fünf Jahre alt sein. Ich weiß nicht genau, was sie damit sagen will, doch zum erstenmal verstehe ich, daß wir vom selben Geschlecht sind.
»Trotzdem«, sagt sie, »bin ich stark wie ein Mann.«
Sie hat ein rot-schwarz kariertes Baumwollhemd an, krempelt einen Ärmel auf und zeigt mir ihren Unterarm, der so breit und hart ist wie ein Paddel. Dann knöpft sie langsam das Hemd auf. »Komm, Smilla«, sagt sie ruhig. Sie küßt mich nie und faßt mich nur selten an. Doch in Augenblicken großer Vertrautheit läßt sie mich die Milch trinken, die immer noch da ist, unter der Haut ist wie das Blut. Sie spreizt die Beine, damit ich dazwischentreten kann. Wie die anderen Jäger trägt sie Bärenfellhosen, die nur notdürftig gegerbt sind. Sie liebt Asche, sie ißt sie zuweilen direkt aus dem Feuer und hat sich damit jetzt unter den Augen eingeschmiert. In diesem Duft aus verbrannter Kohle und Bärenfell gehe ich zu ihrer Brust, sie ist leuchtend weiß und hat eine große, zartrosa Areola, und ich trinke dann immuk , die Milch meiner Mutter.
Später hat sie mir einmal zu erklären versucht, daß in einem Monat dreitausend Narwale in derselben Bucht versammelt sind und das Wasser vor Leben kocht, und im nächsten Monat hat das Eis sie eingeschlossen, und sie sind erfroren. Daß es im Mai und im Juni so viele Krabbentaucher gibt, daß sie die Klippen schwarz färben, und im nächsten Monat eine halbe Million Vögel verhungert ist. Auf die ihr eigene Art und Weise will sie zeigen, daß dem Leben der arktischen Tiere schon immer eine extreme Fluktuation der Populationen zugrunde liegt. Und daß in diesem Auf und Ab das, was wir uns nehmen, weniger als nichts bedeutet.
Ich verstand sie, ich verstand jedes Wort. Damals und später. Doch es änderte nichts. Im Jahr darauf – es war das Jahr, bevor sie verschwand – wurde mir beim Fischen übel. Ich muß etwa sechs gewesen sein. Nicht alt genug, um über die Ursache nachzugrübeln. Aber alt genug, um zu verstehen, daß es sich um eine Naturentfremdung handelte. Daß mir ein Teil der Natur nicht mehr so selbstverständlich zugänglich war wie zuvor. Vielleicht fing ich bereits damals an, das Eis verstehen zu wollen. Verstehen wollen heißt, daß wir etwas zurückzuerobern versuchen, was wir verloren haben.
»Professor Loyen . . .«
Er spricht den Namen mit dem Interesse und dem gewappneten Respekt aus, mit dem ein Brontosaurus den anderen betrachtet und immer betrachtet hat.
»Sehr tüchtiger Mann.«
Er läßt seine weiße Handfläche über Wange und Kinn gleiten. Es ist eine genau einstudierte Bewegung, die ein Geräusch macht, wie wenn man mit einer Schrubbfeile ein Stück Treibholz raspelt.
»Institut für Arktische Medizin, das hat er aufgebaut.«
»Und welches Interesse hat er an der Gerichtsmedizin? Er hat sich als Obduzent für Grönland einsetzen lassen.«
»Ursprünglich ist er Gerichtspathologe. Aber er nimmt alles mit, womit er sich verdient machen kann. Er meint wohl, daß das nach oben führt.«
»Was treibt ihn?«
Hier kommt eine Pause. Den größten Teil seines Lebens hat mein Vater den Kopf unter dem Arm getragen. Auf seine alten Tage jedoch beschäftigen ihn die Motive der Leute sehr.
»In meiner Generation gibt es drei Arten von Ärzten. Einmal die, die als Oberärzte hängenbleiben oder in einer Privatpraxis landen. Es sind viele großartige Leute darunter. Dann die, die sich habilitieren, was – wie du weißt – die willkürliche, lächerliche und vollkommen unzulängliche Bedingung dafür
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