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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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daß die Welt am Anfang nur von zwei Männern bewohnt gewesen sei, die beide große Zauberer waren. Da sie gern zahlreicher werden wollten, habe der eine seinen Körper so umgemodelt, daß er gebären konnte; und danach hätten die beiden viele Kinder gezeugt.
    In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts registrierte der grönländische Katechet Hanseeraq im Tagebuch der Brüdergemeinde, Diarium Friedrichstal , mehrere Fälle von Frauen, die wie Männer jagten. Beispiele dafür gibt es auch in Rinks Sagensammlung und in den Nachrichten aus Grönland, Meddelelser fra Grønland . Besonders verbreitet war das wohl nie, doch es kam vor. Die Ursache waren Frauenüberschuß, Todesfälle, Not und das in Grönland selbstverständliche Wissen, daß beide Geschlechter das jeweils andere als Möglichkeit in sich tragen.
    In der Regel aber mußten sich die Frauen dann wie Männer kleiden und auf ein Familienleben verzichten. Einen Geschlechtswechsel konnte das Kollektiv ertragen, einen fließenden Übergangszustand jedoch nicht. Bei meiner Mutter war das anders. Sie lachte, gebar ihre Kinder, tratschte hinter dem Rücken ihrer Freunde und reinigte die Felle wie eine Frau. Und zugleich schoß sie, fuhr Kajak und schleppte das Fleisch nach Hause wie ein Mann.
    Als sie ungefähr zwölf war, ging sie mit ihrem Vater im April aufs Eis. Er schoß auf einen uuttoq , einen Seehund, der sich auf dem Eis sonnte. Er schoß vorbei. Bei anderen Männern hätte man sich für diesen Patzer verschiedene Gründe denken können. Bei meinem Großvater gab es nur einen. Daß sich etwas Nichtwiedergutzumachendes anbahnte. Es war die Verkalkung des Sehnervs. Nach einem Jahr war er vollkommen blind.
    An diesem Tag im April, als ihr Vater weiterging, um nach einer Langleine zu sehen, blieb meine Mutter stehen. Auf dem Eis hatte sie Zeit, an ihren verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten herumzukauen. Es gab die Sozialhilfe, die in Grönland zwar heute noch unter dem Existenzminimum liegt, damals aber ein unfreiwilliger Witz war. Oder den Hungertod, der keineswegs ungewöhnlich war. Oder ein Leben, bei dem man sich auf Verwandte stützen mußte, die selber nicht klarkamen.
    Als der Seehund wieder hochkam, schoß sie ihn.
    Bis dahin hatte sie mit der Pilkschnur Seeskorpione und schwarzen Heilbutt geangelt. Mit diesem Seehund wurde sie Robbenfängerin.
    Ich glaube, daß sie nur selten einen Schritt zurücktrat und ihre Rolle von außen betrachtete. Einmal zelteten wir im Sommerlager bei Atikerluk, einem Fjäll, auf dem im Sommer Krabbentaucher einfallen, schwarze Vögel mit weißen Köpfen, und es sind so viele, daß man sich von der Menge nur einen Begriff machen kann, wenn man sie gesehen hat. Sie überschreitet alles Meßbare.
    Wir waren, von Norden gekommen, wo wir von kleinen Dieselkuttern aus Narwale gefangen hatten. An einem Tag hatten wir acht Tiere erwischt, teils weil das Eis sie in ein begrenztes Gebiet eingeschlossen hatte, teils weil die drei Boote den Kontakt zueinander verloren hatten. Acht Narwale, das ist zu viel Fleisch, selbst für Hundefutter. Viel zuviel Fleisch.
    Der eine Wal war ein schwangeres Weibchen. Die Brustwarze sitzt direkt über der Geschlechtsöffnung. Als meine Mutter mit einem einzigen Schnitt die Bauchhöhle öffnete, um die Eingeweide herauszunehmen, rutschte ein anderthalb Meter langes, engelweißes und vollständig fertiges Junges aufs Eis.
    Ungefähr vier Stunden lang standen die Walfänger fast schweigend da, sahen in die Mitternachtssonne, die zu dieser Jahreszeit das Licht endlos macht, und aßen mattak , Walhaut. Ich bekam nicht einen Bissen hinunter.
    Eine Woche später liegen wir beim Vogelfjäll und haben seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Man muß, das ist die Technik, mit der Landschaft verschmelzen, warten und den Vogel dann mit einem großen Kescher fangen. Beim zweiten Versuch erwischte ich drei.
    Es waren Weibchen, die auf dem Weg zu ihren Jungen waren. Sie brüten in Löchern an den Steilhängen. Von dorther machen die Jungen einen höllischen Lärm. Die Mütter verstecken die Würmer, die sie finden, in einer Art Schnabeltasche. Man tötet sie, indem man ihnen aufs Herz drückt. Drei Vögel hatte ich.
    Es war nicht das erste Mal, davor hatte es viele andere Male gegeben. So viele Vögel. Getötet, in Lehm gebacken und gegessen, es waren so viele, daß ich mich an die Zahl nicht mehr erinnern kann. Und trotzdem sehe ich jetzt plötzlich ihre Augen als Tunnel, an deren Ende die Jungen warten, und

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