Peter Hoeg
ist, daß man im System nach oben befördert wird. Diese Leute enden als Chefärzte. Alles kleine Könige in der jeweiligen medizinischen Lokalszene. Und dann gibt es noch die dritte Sorte. Das sind wir, die hochgeklettert und hoch hinaus gekommen sind.«
Er sagt das ohne jede Spur von Selbstironie. Man könnte meinen Vater durchaus dazu bringen, allen Ernstes zu erklären, eines seiner Probleme sei, daß er von sich nicht halb so eingenommen sei, wie er es mit guten Gründen hätte sein können.
»Diese letzten Schwimmzüge verlangen einem eine besondere Kraft ab. Es braucht dazu einen starken Willen, einen Ehrgeiz. Nach Geld. Oder Macht. Oder vielleicht Einsicht. In der Geschichte der Medizin hat man dieses Streben immer durch das Feuer abgebildet. Die ewige Flamme des Alchimisten unter der Retorte.«
Er sieht vor sich hin, als halte er eine Spritze in der Hand, als habe die Nadel ihre Stelle fast gefunden.
»Loyen«, sagt er, »der hat schon in seiner Studienzeit immer nur eins gewollt. Daneben ist alles andere Kleinkram. Er wollte als der Klügste auf seinem Gebiet anerkannt sein. Nicht als der Klügste in Dänemark, unter all den Bauerntrotteln. Als der Klügste im Universum. Der fachliche Ehrgeiz, das ist sein ewiger Bunsenbrenner. Aber auf dem brennt kein Gasflämmchen. Das ist ein Johannisfeuer.«
Ich weiß nicht, wie sich mein Vater und meine Mutter begegnet sind. Ich weiß, daß er nach Grönland kam, weil dieses gastfreundliche Land schon immer ein Arbeitsfeld für wissenschaftliche Experimente abgegeben hat. Er entwickelte damals gerade eine neue Technik zur Behandlung der Trigeminusneuralgie, der Entzündung des Gesichtsnervs. Bis dahin hatte man das Leiden gelindert, indem man den Nerv mit Alkoholinjektionen abtötete, was zu einer teilweisen Gesichtslähmung führte und bewirkte, daß man das Gefühl für die Muskulatur der einen Mundhälfte verlor. Dann gab es die sogenannte Tropflippe. Sie kommt selbst in den besten und reichsten Familien vor, und das war auch der Grund, weshalb mein Vater Interesse dafür bekundete. Die Krankheit trat in Nordgrönland häufig auf. Und er war gekommen, um sie mit seiner neuen Technik – einer teilweisen Wärmedenaturierung des Schmerznervs – zu behandeln.
Es gibt Fotos von ihm. In Kastingstiefeln und Daunenanzug, mit Eispickel und Gletscherbrille steht er vor dem Haus, das man ihm auf der amerikanischen Base zur Verfügung gestellt hat. Die Hand auf der Schulter der beiden kleinen dunklen Männer, die für ihn dolmetschen sollen.
Für ihn war Nordgrönland wirklich das äußerste Thule. Keine Sekunde lang hatte er sich vorgestellt, sich länger als diesen einen notwendigen Monat in der windzerzausten Eiswüste aufzuhalten, in der man nicht mal für einen Golfplatz gesorgt hatte.
Eine vage Vorstellung von der weißglühenden Energie zwischen ihm und meiner Mutter kann man sich machen, wenn man bedenkt, daß er tatsächlich drei Jahre dort blieb. Er versuchte sie zu überreden, mit auf die Base zu ziehen, aber sie lehnte ab. Wie für alle, die in Nordgrönland geboren sind, war für meine Mutter auch nur der Anschein von Eingesperrtsein unerträglich. Statt dessen folgte er ihr in eine der Baracken aus Sperrholz und Wellblech, die hochgezogen wurden, als die Amerikaner die Eskimos aus dem Gebiet vertrieben, auf dem die Base gebaut wurde. Noch heute frage ich mich, wie er das wohl geschafft hat. Die Antwort lautet natürlich, daß er, solange sie lebte, seine Golfschläger und seine Tasche jederzeit hinter sich gelassen hätte, um ihr zu folgen, und sei es direkt in die schwarze, versengte Haupthölle.
» Sie bekommen ein Kind«, sagt man von Leuten, die Kinder kriegen. In diesem Fall wäre das nicht korrekt gewesen. Ich möchte sagen, meine Mutter bekam meinen kleinen Bruder und mich. Mein Vater, der Mann mit den Kanülen und den sicheren Händen, der Golfspieler Moritz Jaspersen, stand außerhalb dieses Szenarios, war anwesend, ohne richtig daran teilhaben zu können, gefährlich wie ein Eisbär, gefangen in einem Land, das er haßte, und von einer Liebe, die er nicht verstand, deren Opfer er nur war und auf die er – so empfand er es – nicht den geringsten Einfluß nehmen konnte.
Als ich drei Jahre alt war, ging er fort. Oder genauer gesagt: Er wurde von sich selbst vertrieben. Insgeheim wächst in jeder blinden, kopflosen Verliebtheit der Haß auf den Geliebten, der den einzigen Schlüssel zum Glück besitzt. Ich war, wie gesagt, erst drei Jahre
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