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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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alt, erinnere mich aber noch daran, wie er wegging. Er ging in einem Zustand siedender, verklemmter, schäumend fluchender Wut. Als Energieform betrachtet wurde dies nur durch das Verlangen übertroffen, das ihn wieder zurückschleuderte. Er hing an meiner Mutter mit einem für die Welt nicht sichtbaren Gummiband, das jedoch die Wirkung und die physische Realität eines Treibriemens besaß.
    Mit uns Kindern hatte er nicht viel zu tun, wenn er da war. Aus meinen ersten sechs Jahren erinnere ich mich nur an seine Spuren. An den Duft der Latakiatabake, die er rauchte. An den Autoklav, in dem er seine Instrumente auskochte. An das Interesse, das er weckte, wenn er zuweilen die Pickelschuhe anzog, sich rausstellte und einen Eimer Bälle über das Neueis schlug. Und an die Stimmung, die er mitbrachte, die Summe der Gefühle, die er für meine Mutter hegte. Eine Hitze von derselben beruhigenden Art, die man sich in einem Kernreaktor vorstellt.
    Welche Rolle hatte meine Mutter in der ganzen Sache? Ich weiß es nicht und werde es auch nie erfahren. Leute, die sich in so etwas auskennen, sagen, die beiden Parteien müßten einander schon behilflich sein, wenn eine Liebesbeziehung so richtig in die Brüche gehen und zu Kleinholz werden soll. Das ist schon möglich. Wie alle anderen habe auch ich meine Kindheit seit meinem siebten Lebensjahr kräftig mit Rauschgold übermalt, und ein bißchen hat sich wohl auch an meiner Mutter festgesetzt. Aber sie blieb, wo sie war, legte Robbennetze aus und flocht mir die Haare. Sie war da, groß und gegenwärtig, während Moritz mit seinen Golfschlägern, Bartstoppeln und Kanülen zwischen den Extrempolen seiner Liebe, der totalen Verschmelzung und dem gesamten Nordatlantik zwischen sich und der Geliebten, hin und her pendelte.
     
    Wer in Grönland ins Wasser fällt, kommt nicht wieder hoch. Das Meer hat unter vier Grad, und bei dieser Temperatur haben alle Verwesungsprozesse aufgehört. Deshalb gerät der Mageninhalt auch nicht in Gärung, die Selbstmördern in Dänemark normalerweise erneuten Auftrieb gibt und sie als Wasserleiche an die Küsten spült.
    Sie fanden die Reste ihres Kajaks und schlossen daraus, daß es ein Walroß gewesen sein mußte. Ein Walroß ist unberechenbar. Es kann hypersensibel und scheu sein. Gerät es jedoch ein wenig weiter nach Süden und es ist ein Herbst mit wenig Fischen, verwandelt es sich in einen der schnellsten und gewissenhaftesten Killer des großen Meeres. Mit den beiden Hauern kann es eine Schiffsseite aus Eisenzement eindrücken. Ich habe einmal gesehen, wie Robbenfänger einem Walroß, das sie lebend gefangen hatten, einen Dorsch hinhielten. Es spitzte die Lippen zu einem Kußmäulchen und schlürfte das Fleisch des Fisches glatt von den Gräten.
    »Es wäre schön, wenn du Heiligabend rauskommen würdest, Smilla.«
    »Weihnachten sagt mir nichts.«
    »Willst du deinen Vater allein sitzenlassen?«
    Das ist eine der anstrengenderen Seiten von Moritz, die er mit dem Alter entwickelt hat – die Mischung aus Perfidie und Sentimentalität.
    »Kannst du es nicht mit dem Seemannsheim versuchen?«
    Ich bin aufgestanden und er geht mir nach.
    »Du bist verdammt herzlos, Smilla. Deshalb hast du auch nie einen Mann halten können.«
    Näher kann er den Tränen nicht kommen.
    »Vater«, sage ich. »Stell mir ein Rezept aus.«
    Sofort und blitzschnell schlägt sein Gekränktsein in Besorgtheit um, wie gegenüber meiner Mutter.
    »Bist du krank?«
    »Sehr. Aber mit dem Stück Papier kannst du mir das Leben retten und deinen hippokratischen Eid halten. Mach es fünfstellig.«
    Er windet sich, hier geht es ums Herzblut, jetzt sind wir bei den vitalen Organen, dem Portemonnaie und dem Scheckbuch.
    Ich ziehe den Pelz an. Benja kommt nicht heraus, um mir auf Wiedersehen zu sagen. An der Tür reicht er mir den Scheck. Er weiß, daß diese Pipeline seine einzige Verbindungslinie zu meinem Leben ist. Selbst die fürchtet er zu verlieren.
    »Soll Fernando dich nicht nach Hause fahren?«
    Da fällt ihm plötzlich etwas ein.
    »Smilla«, ruft er, »du fährst doch wohl nicht weg, oder?« Zwischen uns liegt ein Stück schneebedeckter Rasen. Es könnte ebensogut Inlandeis sein.
    »Mir drückt was aufs Gewissen«, sage ich. »Wenn ich was dagegen tun will, kostet es Geld.«
    »Dann fürchte ich wirklich«, sagt er, halb zu sich selbst, »daß der Scheck bei weitem nicht hoch genug ist.«
    Damit hat er das letzte Wort. Der Klügere gibt schließlich nach.

7
    Vielleicht ist

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