Peter Hoeg
es Zufall, vielleicht auch nicht, daß er kommt, als die Arbeiter zum Essen gegangen sind, so daß das Dach verlassen daliegt. Die Sonne scheint hell, mit einem Hauch von Wärme, blauer Himmel, weiße Möwen, Aussicht auf die Werft im schwedischen Limhamn und keine Spur von dem Schnee, der daran schuld ist, daß wir hier stehen. Ich und Herr Ravn, Assessor bei der Staatsanwaltschaft.
Er ist klein, nicht größer als ich, aber er hat einen sehr großen, grauen Mantel an. Die Schultern sind so wattiert, daß er aussieht wie ein Zehnjähriger, der in einem Musical über die Prohibition mitspielt. Sein Gesicht ist dunkel und ausgebrannt wie Lava und so mager, daß die Haut wie bei einer Mumie um den Schädel spannt. Doch seine Augen sind wach und aufmerksam.
»Ich dachte, ich sollte mal vorbeischauen«, sagt er.
»Zu freundlich. Sie schauen bei Beschwerden immer vorbei?«
»Ausnahmsweise. Normalerweise geht die Sache an den örtlichen Beschwerdeausschuß. Sagen wir, es ist wegen der Eigenart dieser Angelegenheit und wegen Ihres provozierenden Beschwerdeschreibens.«
Ich sage nichts. Ich lasse die Stille ein wenig auf den Assessor einwirken. Sie hat keinen sichtbaren Effekt. Seine sandfarbenen Augen ruhen ohne Unstetigkeit und Peinlichkeit auf mir. Er kann hier unbegrenzt stehenbleiben. Schon das macht ihn zu einem ungewöhnlichen Mann.
»Ich habe mit Professor Loyen gesprochen. Er hat mir erzählt, daß Sie ihn besucht haben. Daß Sie meinen, der Junge habe unter Höhenangst gelitten.«
Sein Platz in dieser Welt macht es mir unmöglich, wirklich Zutrauen zu ihm zu haben. Aber ich habe das Bedürfnis, etwas von dem, was mich quält, loszuwerden.
»Da waren die Spuren im Schnee.«
Nur wenige Menschen können zuhören. Ihre gehetzte Eile zieht sie aus dem Gespräch heraus, oder sie versuchen innerlich, die Situation zu verbessern, oder sie überlegen sich ihren Auftritt für den Moment, in dem man selber die Klappe hält, damit sie sich nun ihrerseits in Szene setzen können.
Mit dem Mann vor mir ist das anders. Wenn ich rede, hört er unzerstreut zu, was ich sage, und nichts sonst.
»Ich habe den Bericht gelesen und die Bilder gesehen . . .«
»Es gibt noch etwas anderes. Anderes und mehr.«
Jetzt bewegen wir uns auf das zu, was gesagt werden muß, sich aber nicht erklären läßt.
»Es waren Beschleunigungsspuren. Beim Absprung von Schnee oder Eis dreht sich das Fußgelenk. Wie wenn man barfuß durch Sand läuft.«
Ich versuche ihm die leicht nach außen drehende Bewegung mit dem Handgelenk vorzumachen.
»Wenn man die Bewegung zu schnell macht, nicht mit dem richtigen Gefühl, gibt es einen kleinen Rutscher nach hinten.«
»Wie bei jedem Kind, das spielt . . .«
»Wenn man daran gewöhnt ist, im Schnee zu spielen, macht man keine solchen Spuren, die Bewegung ist nämlich unökonomisch, wie wenn man beim Langlauf bergauf das Gewicht schlecht verlagert.«
Ich höre selber, wie unzulänglich das klingen muß. Ich erwarte eine höhnische Bemerkung. Doch sie bleibt aus.
Er schaut auf das Dach. Er hat keine Ticks, keine Angewohnheiten mit seinem Hut. Er zündet keine Pfeife an und tritt auch nicht von einem Fuß auf den anderen. Er zieht keinen Block heraus. Er ist nur ein sehr kleiner Mann, der zuhört und gründlich nachdenkt.
»Interessant«, sagt er schließlich. »Aber auch ein bißchen . . . vage. Einem Außenstehenden könnte man das nur schwer vorlegen. Schwierig, darauf etwas aufzubauen .«
Er hat recht. Schnee lesen ist wie Musik hören. Das Gelesene beschreiben heißt, die Musik schriftlich erklären.
Wenn es zum erstenmal passiert, ist es, als würde man entdecken, daß man wach ist, während alle anderen schlafen. Zu gleichen Teilen Einsamkeit und Allmacht. Wir sind auf dem Weg von Qinnissut in die Inglefieldbucht hinunter. Es ist Winter, es ist stürmisch, und es ist beängstigend kalt. Wenn die Frauen austreten wollen, müssen sie unter einer Decke einen Primuskocher anzünden, um überhaupt die Hosen herunterziehen zu können, ohne sich sofort Erfrierungen zu holen.
Eine Zeitlang spüren wir bereits, daß Nebel aufzieht, doch als er dann kommt, kommt er augenblicklich, wie eine kollektive Blindheit. Selbst die Hunde kriechen enger zusammen. Doch für mich ist der Nebel eigentlich gar nicht da. Für mich ist da nur eine wilde, helle Aufgeräumtheit, weil ich absolut sicher weiß, in welche Richtung wir müssen.
Meine Mutter hört auf mich, und die anderen hören auf sie. Ich werde auf
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