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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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zu sehen. Doch selbst wenn jemand da wäre, würde ich ihn nicht sehen können. Dann laufe ich.
    Vom Schiff und die Gangway hinunter. Ich sehe niemanden. Niemand ruft mich an. Ich biege ab und laufe die Pier entlang. Die Pontons unter den Füßen fühlen sich lebendig und unsicher an. Hier unten wirkt die Notbeleuchtung quälend hell. Ich halte mich an der den Lampen entgegengesetzten Seite, lege jedesmal Tempo zu, wenn ich ein Lichtfeld erreiche, und gehe langsam, um wieder Luft zu kriegen, wenn ich wieder im Dunkeln bin. Seit ich Lander im Nebel nach Skovshoved habe zurückfahren sehen, sind gerade sechs Tage vergangen. Ich bin in jeder Beziehung immer noch auf dem offenen Meer. Trotzdem empfinde ich etwas, was Ähnlichkeit mit der Freude haben muß, die ein Matrose auf großer Fahrt empfindet, wenn er seinen Fuß wieder auf festen Boden setzt.
    Vor mir wird eine Gestalt sichtbar. Sie bewegt sich torkelnd und ruckartig von einer Seite auf die andere, wie ein Betrunkener.
    Es hat angefangen zu regnen. Der Kai hat Verkehrszeichen wie ein Boulevard. Zu beiden Seiten ragen fensterlose Schiffsrümpfe wie Hochhäuser fünfundvierzig Meter hoch auf. Weit weg glänzt das Aluminium der Baracken. Große, unsichtbare Maschinen lassen alles gedämpft vibrieren. Die Greenland Star ist eine ausgestorbene Stadt am Rande eines leeren Himmels.
    Das einzige Lebewesen ist die vor mir hin und her hopsende Gestalt. Es ist Jakkelsen. Die Silhouette vor einer Lampe ist unbestreitbar Jakkelsen. Vor ihm, weit voraus, ist ein anderer, ein Mensch auf dem Weg irgendwohin. Deshalb wechselt Jakkelsen dauernd die Seite. Er versucht wie ich, das Licht zu meiden. Versucht, sich vor dem, den er verfolgt, unsichtbar zu machen.
    Hinter mir ist anscheinend niemand, ich mache also langsamer. Damit ich die beiden vor mir nicht einhole, aber doch vorankomme.
    Ich biege um den letzten Turm. Vor mir liegt ein weitgestreckter, offener Platz. Ein Marktplatz mitten auf dem Meer. Das einzige Licht im Halbdunkel kommt von vereinzelten, hochsitzenden Leuchtstoffröhren. In der Mitte des Platzes, im Mittelpunkt einer Reihe weißer, konzentrischer Kreise, ragt geduckt die Silhouette eines großen, toten Tieres auf. Ein Sikorskyhubschrauber mit vier leicht gerundeten, hängenden Rotorblättern. Neben einer Baracke hat jemand einen kleinen Pumpenwagen zum Schaumlöschen und einen Elektrobus stehenlassen. Jakkelsen ist weg. Es ist der ödeste Ort, den ich je gesehen habe.
    Als Kind habe ich ab und zu geträumt, alle Menschen seien tot und hätten mich mit der euphorischen Freiheit der Entscheidung in einer verlassenen Erwachsenenwelt zurückgelassen. Ich habe das immer für einen Wunschtraum gehalten. Jetzt, hier auf dem Platz, sehe ich, daß es immer ein Alptraum gewesen ist. Ich gehe weiter, auf den Helikopter zu, daran vorbei, in das schwache Licht hinaus, das vom rutschfesten Belag der Pontons dunkelgrün gefärbt wird. Um mich herum ist es so leer, daß ich nicht einmal fürchten kann, entdeckt zu werden.
    Dort, wo die Plattform direkt ins Meer übergeht, stehen drei Baracken und ein Halbdach. Im Schatten, etwas weg vom Licht, sitzt Jakkelsen. Einen Augenblick lang werde ich unruhig. Vor einigen Minuten hat er sich noch affenartig schnell bewegt, jetzt ist er vollkommen zusammengesunken. Doch als ich ihm die Hand auf die Stirn lege, spüre ich seine Hitze und seinen Schweiß vom Laufen. Als ich ihn wach rütteln will, klirrt Metall. Ich fische in seiner Brusttasche herum und hole seine Injektionsspritze heraus. Ich erinnere mich an seinen Gesichtsausdruck, als er mir versicherte, er würde den Laden schon schmeißen. Ich versuche ihn auf die Beine zu kriegen. Aber er ist zu schlaff. Was er braucht, sind zwei starke Krankenträger und ein Krankenhausbett auf Rädern. Ich ziehe meine Jacke aus und lege sie ihm um. Ziehe sie ihm bis über seine Stirn, damit es ihm nicht ins Gesicht regnet. Lasse die Spritze in seine Tasche zurückgleiten. Man muß schon jünger oder zumindest idealistischer sein als ich, um Menschen verschönern zu wollen, die den festen Entschluß gefaßt haben, sich umzubringen.
    Als ich mich aufrichte, ist ein Schatten unter einem Halbdach hervorgeglitten und lebendig geworden. Er bewegt sich nicht in meine Richtung, er ist auf dem Weg über den Platz.
    Es ist ein Mensch. Mit einem kleinen Koffer und wehendem Mantel. Doch nicht der Koffer ist klein, sondern die Person ist groß. Aus dieser Entfernung sehe ich nicht viel. Doch das ist auch nicht

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