Peter Hoeg
kommt mir vor, als würde ich nie ankommen.
Jetzt ist mir das Leben auf diesem Schiff zu einem Zerrbild meiner Existenz geworden, meiner Existenz in der modernen Welt.
Ich bin keine Heldin. Ich habe etwas für ein Kind empfunden. Ich hätte meine Sturheit jemandem zur Verfügung stellen können, der seinen Tod hätte verstehen wollen. Aber es gibt niemanden. Niemanden außer mir.
Ich gehe nach oben, an Deck. An jeder Ecke rechne ich mit Verlaine. Doch ich begegne niemandem. Das Deck wirkt verlassen. Ich stelle mich an die Reling. Die Greenland Star sieht anders aus als vor ein paar Stunden, als ich hier gestanden habe. Als ich noch gelähmt war von den hinter mir liegenden Tagen. Jetzt ist sie mein Weg weg von hier, meine Fluchtmöglichkeit.
Die Piers, von denen mindestens zwei eine Länge von einem Kilometer haben, sind in den langen Dünungen, die aus der Dunkelheit herangerollt kommen, sonderbar still. Hinten bei den Gebäuden sehe ich kleine, beleuchtete Elektroautos und Gabelstapler.
Die Gangway der Kronos ist ausgefahren. Auf den Kais stehen große Schilder mit der Aufschrift Access to pier strictly forbidden.
Vom Ende der Gangway aus sind es über sechs- bis siebenhundert Meter über den in helles Licht getauchten Pontonkai. Sie haben zwar keine Wachposten aufgestellt, in den Kontrolltürmen, von denen aus sie das Auspumpen des Öls steuern, ist kein Licht, aber dennoch wird das Areal sicher überwacht. Sie werden mich sehen und aufgreifen.
Darauf setze ich. Wahrscheinlich sind sie verpflichtet, mich wieder abzuliefern. Doch vorher werden sie mich an einen Ort mit einem Offizier, einem Schreibtisch und einem Stuhl führen. Dort werde ich etwas über die Kronos erzählen. Nichts, was auch nur annäherungsweise mit dem Teil der Wahrheit zu tun hat, den ich kenne. Den würde man mir ohnehin nicht glauben. Aber etwas von Jakkelsens Drogen und daß ich mich von der übrigen Besatzung bedroht fühle und das Schiff verlassen möchte.
Sie werden mir zuhören müssen. Desertion als technisches und juristisches Phänomen gibt es nicht mehr. Ein Matrose und eine Stewardeß können an Land gehen, wann immer sie wollen.
Ich gehe auf das zweite Deck hinunter. Von hier aus sieht man die Gangway. Wo sie auf das Deck trifft, ist eine windgeschützte Stelle. Dort hat Jakkelsen seinerzeit auf mich gewartet.
Jetzt wartet ein anderer. Hansen hat seine Turnschuhe auf den niedrigen Stahlkasten plaziert.
Ich würde die Gangway nicht schaffen, bevor er vom Stuhl hoch wäre. Bei einem Spurt von hundertfünfzig Metern den Kai hinunter wäre ich die sichere Siegerin. Aber dann wäre ich total am Ende, ich würde stehenbleiben und umfallen.
Ich ziehe mich auf das Deck zurück. Stehe und wäge meine Möglichkeiten ab. Gerade bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß ich keine habe, als plötzlich das Licht ausgeht.
Ich habe gerade die Augen geschlossen. Ich versuche, in den Geräuschen eine Lösung zu finden. Die Dünung, die am Kai entlangläuft, das hohle Geräusch, wenn das Wasser an die Fender schlägt. Die Schreie der großen Möwen in der Dunkelheit. Das leise Heulen des Windes um die Kontrolltürme. Das Seufzen der verkoppelten Pontonteile, die sich aneinander reiben. Ein fernes, schwaches Kreischen großer Turbinengeneratoren. Und niederschmetternder als all diese Geräusche zusammen: das Gefühl, daß all dieser Lärm über dem schwarzen Atlantik in die Leere gesogen wird. Daß die ganze Konstruktion und die vertäuten Schiffe ein empfindlicher Fehlgriff sind, der sehr bald über den Haufen geworfen wird.
In diesen Geräuschen liegt kein Rat für mich. An einem Ort wie diesem kann man ein Schiff nur über die Gangway verlassen. Ich bin auf der Kronos gefangen.
In diesem Moment also geht das Licht aus. Als ich die Augen öffne, sind sie zuerst wie von der Schwärze geblendet. Und dann glüht es, in Abständen von vielleicht hundert Metern, am Kai rot auf. Die Notbeleuchtung.
Auf der Pier, an der die Kronos vertäut ist, und auf dem Schiff selbst ist das Licht aus. Die Nacht ist so dunkel, daß auch die nächste Umgebung verschwunden ist. Der entferntere Teil der Plattform liegt wie eine gelblichweiße Insel in der Nacht.
Ich sehe den Kai. Ich sehe eine Gestalt auf dem Kai. Sie bewegt sich von der Kronos fort. Die Mischung aus Furcht, Hoffnung und alter Gewohnheit bewirkt, daß ich mir den Kopf weder am Mast noch an einem Ankerspill einrenne. Oberhalb des letzten Treppenstücks bleibe ich kurz stehen. Es ist niemand
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