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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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herausarbeiten kann.
    Ich nehme den grönländischen Weg. Der besteht darin, daß man in das schwarze Loch hineingeht. Seine Niederlage unter das Mikroskop legt und bei diesem Anblick verweilt.
    Wenn es richtig schlimm ist – so wie jetzt –, sehe ich einen schwarzen Tunnel vor mir. Zu dem gehe ich. Ich lege meine schönen Sachen ab, meine Unterwäsche, meinen Sicherheitshelm und meinen dänischen Paß, und dann gehe ich in das Dunkel hinein.
    Ich weiß, es kommt ein Zug. Eine Dampflokomotive mit Bleimantel, die Strontium 90 transportiert. Ich gehe ihr entgegen.
    Das kann ich, weil ich siebenunddreißig Jahre alt bin. Ich weiß, daß im Tunnel, unter den Rädern, zwischen den Schwellen, ein kleiner Lichtpunkt ist.
    Es ist Heiligabend, morgens. Seit einigen Tagen habe ich mich nach und nach von der Welt abgenabelt. Und bereite mich nun auf den endgültigen Abstieg vor. Der kommen muß. Weil ich mich von Ravn habe unterkriegen lassen. Weil ich jetzt Jesaja im Stich lasse. Weil ich meinen Vater nicht aus dem Kopf kriege. Weil ich nicht weiß, was ich dem Mechaniker sagen soll. Weil ich anscheinend nie klüger werde.
    Ich habe mich vorbereitet, indem ich nicht gefrühstückt habe. Das fördert die Konfrontation. Ich habe die Tür abgeschlossen. Ich setze mich in den großen Sessel. Und rufe die schlechte Laune auf mich herab: Hier sitzt Smilla. Hungrig. Verschuldet. Am Heiligabend. Wo andere ihre Familie haben. Ihren Partner. Ihre B&O-Stereoanlage. Wo andere einander haben.
    Das zeigt Wirkung. Ich stehe bereits vor dem Tunnel. Angealtert. Mißlungen. Verlassen.
    Es klingelt. Es ist der Mechaniker. Ich höre es an der Art des Klingelns. Vorsichtig, tastend, als sei die Klingel direkt in den Schädel einer alten Dame eingeschraubt, die er nicht stören möchte. Ich habe ihn seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Nicht mehr an ihn denken wollen. Ich gehe in den Flur und ziehe den Bananenstecker heraus. Ich setze mich wieder.
    In meinem Inneren lasse ich die Bilder aufmarschieren, als ich zum zweitenmal ausgerissen bin und Moritz mich in Thule holte. Wir standen auf der nicht überdachten Zementplattform, auf der man die letzten zwanzig Meter zum Flugzeug hinausgeht. Meine Tante jammerte. Ich atmete durch, so tief ich konnte. Ich dachte, daß es mir auf diese Weise gelingen würde, die klare, trockene und irgendwie süße Luft mit nach Dänemark zu nehmen.
    Es klopft an die Küchentür. Es ist Juliane. Sie kniet sich hin und ruft durch den Briefschlitz.
    »Smilla. Ich habe Fischteig angerührt!«
    »Laß mich in Ruhe.«
    Sie ist eingeschnappt. »Ich kippe ihn durch deinen Briefschlitz. «
    Als wir ins Flugzeug steigen wollten, schenkte mir meine Tante ein Paar Hauskamiken. Allein für die Perlenstickerei hatte sie einen Monat gebraucht.
    Das Telefon klingelt.
    »Ich hätte mit Ihnen gern über etwas gesprochen.«
    Es ist Elsa Lübings Stimme.
    »Bedaure«, sage ich. »Erzählen Sie's jemand anderem. Werfen Sie Ihre Perlen nicht vor die Säue.«
    Ich ziehe den Stecker heraus. Sekundenweise fühle ich mich von dem Gedanken an Ravns Isolierzelle angezogen. Es ist ein Tag, an dem man nicht ausschließen kann, daß als nächstes jemand ans Fenster klopft. Im vierten Stock.
    Es klopft an mein Fenster. Draußen steht ein grüner Mann. Ich mache auf.
    »Ich bin der Fensterputzer. Ich wollte Sie bloß warnen. Damit Sie nicht plötzlich anfangen zu strippen.«
    Er grinst von Ohr zu Ohr. Als würde er die Fenster putzen, indem er die Scheiben nacheinander in den Mund nimmt.
    »Was zum Teufel meinen Sie? Wollen Sie damit andeuten, daß Sie keine Lust haben, mich nackt zu sehen?«
    Sein Lächeln verblaßt. Er drückt auf einen Knopf, die Plattform, auf der er steht, bringt ihn außer Reichweite.
    »Ich will keine Fenster geputzt haben«, rufe ich ihm nach. »In meinem Alter kann man sowieso kaum mehr rausschauen.«
    Die ersten Jahre in Dänemark habe ich nicht mit Moritz gesprochen. Wir aßen zusammen Abendbrot. Das hatte er verlangt. Ohne ein Wort saßen wir aufrecht da, während wechselnde Haushälterinnen wechselnde Gerichte servierten. Frau Mikkelsen, Dagny, Fräulein Holm, Boline Hsu. Hacksteak, Hase in Rahmsauce, japanisches Gemüse, ungarische Spaghetti. Ohne ein Wort zu wechseln.
    Wenn jemand davon redet, wie schnell Kinder vergessen, wie schnell sie vergeben und wie sensibel sie sind, dann geht mir das zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Kinder können jemanden, den sie nicht mögen, erinnern, aufleben und

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