Peter Hoeg
erfrieren lassen.
Ich war wohl etwa zwölf Jahre alt, als ich zum erstenmal auch nur ein klein wenig verstand, warum er mich nach Dänemark geholt hatte. Ich war aus Charlottenlund abgehauen. Ich trampte nach Westen. Ich hatte gehört, daß man nach Jütland käme, wenn man nach Westen fuhr. In Jütland gab es Frederikshavn. Von dort aus konnte man nach Oslo kommen. Von Oslo gingen regelmäßig Frachtschiffe nach Nuuk. In der Nähe von Sorø wurde ich am späten Nachmittag von einem Förster mitgenommen. Er fuhr mich zu einem Forsthaus, gab mir Milch und ein Butterbrot und bat mich, einen Augenblick zu warten. Während er die Polizei anrief, hatte ich das Ohr an der Tür.Vor der Garage fand ich das Moped seines Sohnes. Ich nahm den Weg über die Acker. Der Förster lief mir nach, aber seine Hausschuhe blieben im Schlamm stecken.
Es war Winter. In einer Kurve an einem See rutschte ich, fiel, riß meine Jacke auf und verletzte mir die Hand. Ich ging einen Großteil der Nacht zu Fuß weiter. Zum Schlafen setzte ich mich in ein Wartehäuschen einer Bushaltestelle. Als ich aufwachte, saß ich auf einem Küchentisch, und eine Frau desinfizierte meine Hautabschürfungen am Brustkasten mit reinem Alkohol. Es war ein Gefühl, als würde man von einem Rammbock umgerannt.
Im Krankenhaus kratzten sie Asphalt aus der Wunde und gipsten die gebrochenen Handwurzelknochen ein. Dann kam Moritz und holte mich.
Er war sehr wütend. Als wir nebeneinander den Krankenhausflur entlanggingen, zitterte er.
Er hielt meinen Arm fest. Als er seinen Autoschlüssel herausnehmen wollte, ließ er mich los, und ich riß aus. Ich war ja auf dem Weg nach Oslo. Aber ich war nicht gerade in allerbester Form, und er war schon immer schnell. Golfspieler trainieren das Laufen, um die langen Entfernungen durchhalten zu können. Oft sind das zweimal 25 Kilometer, wenn sie in zwei Tagen zweiundsiebzig Löcher abgehen. Im nächsten Moment hatte er mich am Kragen.
Ich hatte eine Überraschung für ihn. Ein Chirurgenskalpell, das ich mir auf der Unfallstation in die Kapuze gesteckt hatte. Es geht durchs Fleisch, als sei es Butter, die in der Sonne gestanden hat. Doch weil meine rechte Hand eingegipst war, reichte es nur zu einem Schnitt über seine eine Handfläche.
Er sah die Hand an, und dann hob er sie, um mich zu schlagen. Ich war jedoch etwas zurückgeglitten, und so umkreisten wir einander, dort auf dem Parkplatz. Wenn physische Gewalt in einer Beziehung lange Zeit nur latent da ist, kann es manchmal geradezu erleichternd sein, wenn man zu ihr vorstößt. Plötzlich richtete er sich auf.
»Du bist wie deine Mutter«, sagte er. Und dann fing er an zu weinen.
In diesem Augenblick tat ich einen Blick in sein Inneres. Als meine Mutter auf Grund ging, muß sie etwas von Moritz mitgenommen haben. Oder, was noch schlimmer ist: etwas von seiner physischen Welt muß mit ihr ertrunken sein. Dort, auf dem Parkplatz, an diesem frühen Wintermorgen, wo wir uns ansahen, während sein Blut von der Hand heruntertropfte und einen kleinen roten Tunnel in den Schnee brannte, erinnerte ich mich an etwas. Ich erinnerte mich an ihn in Grönland, bevor meine Mutter starb. Ich erinnerte mich, daß es mitten in seinen lauernden, unvorhersehbaren Stimmungsschwankungen auch eine Fröhlichkeit und Lebensfreude und möglicherweise auch sogar so etwas wie Wärme gegeben hatte. Diesen Teil der Welt hatte meine Mutter mit sich genommen. Sie war mit den Farben verschwunden. Seitdem war er in einer ausschließlich schwarzweißen Welt eingesperrt.
Nach Dänemark hatte er mich geholt, weil ich das einzige war, das ihn an das Verlorene erinnern konnte. Menschen, die verliebt sind, beten eine Fotografie an. Sie liegen vor einem Halstuch auf den Knien. Sie unternehmen eine Reise, um sich eine Hausmauer anzusehen. Sie machen alles, was die Glut, die sie wärmt und zugleich verbrennt, entfachen kann.
Bei Moritz war es noch schlimmer. Er war hoffnungslos in jemanden verliebt, dessen Moleküle in die große Leere hinausgesogen worden waren. Seine Liebe hatte die Hoffnung aufgegeben. Aber sie hatte sich an die Erinnerung geklammert. Und diese Erinnerung war ich. Unter großen Mühen hatte er mich geholt, jahrelang hatte er in einer Wüste aus Widerwillen eine endlose Serie von Zurückweisungen ertragen, um zu mir herübersehen und einen Augenblick bei dem innehalten zu können, was ihn an mir an die Frau erinnerte, die meine Mutter gewesen war.
Wir richteten uns auf. Ich warf das Skalpell
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