Peter Hoeg
ins Gebüsch. Wir gingen in die Unfallstation zurück und ließen ihn verbinden.
Es war das letztemal, daß ich auszureißen versuchte. Ich will nicht sagen, daß ich ihm verzieh. Ich werde immer mißbilligen, wenn Erwachsene den Druck der Liebe, den sie nicht haben loswerden können, an kleinen Kindern auslassen. Aber in gewisser Weise verstand ich ihn. Von meinem Stuhl aus sehe ich den Briefschlitz. Es ist der letzte Eingang, durch den sich die Welt draußen noch nicht durchzuzwängen versucht hat. Jetzt wird ein langer Streifen graue Pappe durchgeschoben. Er ist beschrieben. Ich lasse ihn eine Zeitlang liegen. Aber es ist schwer, eine Nachricht zu ignorieren, die fast einen Meter lang ist. ›Alles ist besser als Selbstmord‹ steht da. Jedenfalls sollte es da stehen. Es ist ihm gelungen, in dem kurzen Text zwei oder drei Schreibfehler unterzubringen.
Seine Tür ist offen. Ich weiß, daß er sie nie abschließt. Ich klopfe an und gehe hinein.
Ich habe mir ein bißchen kaltes Wasser ins Gesicht geklatscht. Es ist nicht auszuschließen, daß ich auch meine Haare gebürstet habe.
Er sitzt im Wohnzimmer und liest. Ich sehe ihn zum erstenmal mit Brille.
Draußen ist der Fensterputzer zugange. Als er mich sieht, beschließt er, ein Stockwerk tiefer weiterzumachen.
Der Mechaniker hat immer noch eine Wundklammer im Ohr. Doch es scheint zu heilen. Er hat schwarze Ränder unter den Augen. Aber er ist frisch rasiert.
»Es hat noch eine Expedition gegeben.«
Er klopft auf die Papiere, die er vor sich hat.
»Es war die Karte, die mich daraufgebracht hat.«
Ich setze mich neben ihn. Er riecht nach Shampoo und Knoblauch.
»Jemand hat etwas auf die Karte geschrieben.«
Ich schaue mir die Detailkarte des Gletschers zum erstenmal genauer an. Es ist eine Fotokopie. Auf dem Rand hat jemand mit Bleistift etwas notiert. Durch das Kopieren ist die Notiz deutlicher geworden. Es ist eine Mischung aus Englisch und Dänisch. ›Revidiert accord. Carlsb. found. Expd. 1966‹.
Er sieht mich erwartungsvoll an.
»Da s-sage ich mir, daß es also noch eine Expedition gegeben hat. Ich überlege einen Augenblick und gehe ins Archiv zurück.«
»Ohne Schlüssel?«
»Ich habe Werkzeug.«
Kein Grund, daran zu zweifeln. Er hat Werkzeug, mit dem man die Keller unter der Nationalbank öffnen könnte.
»Aber dann habe ich den Einfall, bei Carlsberg anzurufen. Das erweist sich als m-mühsam. Jemand stellt mich durch. Es stellt sich heraus, daß ich mit dem Carlsbergfonds reden muß. Dort bekomme ich die Auskunft, daß sie 1966 eine Expedition unterstützt haben. Aber keiner im Fonds hat schon damals dort gearbeitet. Und einen Bericht hatten sie nicht. Aber sie hatten etwas anderes.«
Das ist sein Trumpf.
»Sie hatten die Abrechnung und das Verzeichnis der Expeditionsteilnehmer und Mitarbeiter, an die sie Gehalt gezahlt hatten. Weißt du, was ich ihnen gesagt habe, woher ich a-anrufe? Vom Finanzamt. Sie haben die Auskünfte sofort herausgerückt. Und weißt du was? Es war einer von der ersten Expedition dabei.«
Er legt mir ein Blatt Papier vor. In Blockschrift steht da eine Reihe von Namen, von denen ich zwei kenne. Er zeigt auf den einen.
»Komischer Name, nicht wahr? Den vergißt man nicht, wenn man ihn einmal gehört hat. Er war beide Male dabei.«
›Andreas Fine Licht‹ steht da. ›6oo CYD 12/9‹.
»Was bedeutet CYD?«
»Cap York Dollars. Die Währung der Kryolithgesellschaft in Grönland.«
»Ich habe das Einwohnermeldeamt angerufen. Die wollten Namen, Personenkennzeichen und die letzten bekannten Wohnanschriften haben. Ich mußte also noch mal beim Fonds anrufen. Aber dann habe ich sie gefunden. Da stehen zehn Namen, nicht wahr? Drei davon waren Grönländer. Von den sieben anderen leben nur noch zwei. 1966 ist a-allmählich schon lange her. Der eine ist Licht. Der andere ist eine Frau. Bei Carlsberg haben sie gesagt, sie sei für eine Übersetzung bezahlt worden. Sie konnten nicht sehen, was es war. Sie heißt Benedicte Clahn.«
»Da ist noch einer.«
Er sieht mich verständnislos an.
Ich lege ihm den medizinischen Bericht vor und zeige auf den Namen des Unterzeichners. Er buchstabiert ihn langsam. »Loyen.«
Dann nickt er.
»Der war 1966 auch dabei.«
Er kocht für uns.
Es ist eine Art Gesetzmäßigkeit. Wenn man sich bei Leuten wohl fühlt, landet man in der Küche. In Qaanaaq wohnten wir in der Küche. Hier begnüge ich mich damit, in der Tür zu stehen. Seine Küche ist zwar geräumig, aber er füllt
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