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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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eingebaute Lautsprecher, eingebaute siebzigprozentige Verzerrung und eingebaute Unverwüstlichkeit, so daß man nicht einmal eine Ausrede hat, sich einen neuen zu kaufen.
    Vor mir auf dem Tisch habe ich Jesajas Zigarrenkiste. Ich habe die Dinge nacheinander in der Hand gewogen. Ich habe die Harpunenspitze in Birket-Smith' Die Eskimos nachgeschlagen. Es ist eine Spitze aus der Dorsetkultur. 700-900 nach Christus. Das Buch meint, man habe davon mindestens 5.000 gefunden. An einer Küste von 3.000 Kilometern.
    Ich nehme das Band aus dem Cover. Es ist ein Maxell XL I-S. Ein teures Band. Ein Band für Leute, die Musik aufnehmen wollen.
    Auf dem Band ist keine Musik. Ein Mann spricht. Ein Grönländer.
    1981 habe ich auf Disko mitgetestet, wie naßkalter Meeresnebel die Karabiner korrodieren läßt, die man auf Gletscherwanderungen zur Sicherung benutzt. Wir hängten sie einfach an einer Schnur auf und kamen drei Monate später zurück. Sie sahen immer noch zuverlässig aus. Leicht angelaufen, aber zuverlässig. Die Fabrik hatte die Zugstärke mit 4.000 Kilo angegeben. Es zeigte sich, daß wir die Haken mit einem Fingernagel auseinanderpulen konnten. In dem feindlichen Klima waren sie in Auflösung geraten.
    Durch einen ähnlichen Korrosionsprozeß verliert man seine Sprache.
    Als man uns aus der Siedlungsschule von Qaanaaq herausnahm, bekamen wir Lehrer, die kein Wort Grönländisch konnten und auch nicht vorhatten, es zu lernen. Sie erzählten uns, daß auf diejenigen von uns, die besser als die anderen lernten, eine Eintrittskarte nach Dänemark, die Zulassung zu einem Examen und damit der Weg aus dem arktischen Elend wartete. Dieser goldene Aufstieg mußte auf dänisch vor sich gehen. Das war zu einer Zeit, als man die Weichen für die Politik der Sechziger stellte. Es führte dazu, daß aus Grönland offiziell ›Dänemarks nördlichster Regierungsbezirk‹ wurde, die inuit offiziell als ›Norddänen‹ bezeichnet werden mußten und ›zu denselben Rechten wie die übrigen Dänen erzogen‹ werden sollten, wie es der gemeinsame Premier ausdrückte.
    Damit ist das Fundament gelegt. Dann kommt man nach Dänemark, es vergeht ein halbes Jahr, und man hat das Gefühl, daß man die Muttersprache nie vergessen wird. In der Muttersprache macht man sich seine Gedanken und erinnert sich an seine Vergangenheit. Dann begegnet man auf der Straße einem Grönländer. Man tauscht Phrasen aus. Und plötzlich sucht man nach einem ganz gewöhnlichen Wort. Noch ein halbes Jahr vergeht. Eine Freundin nimmt einen mit zum Grönländerhaus in der Løvstræde. Dort entdeckt man, daß man sein Grönländisch mit dem Fingernagel auseinanderpulen kann.
    Seitdem habe ich, wenn ich in Grönland war, versucht, es wieder zu lernen. Wie so vieles andere ist es mir weder richtig gelungen noch mißlungen. So weit bin ich also ungefähr mit meiner Muttersprache – als wäre ich sechzehn oder siebzehn Jahre alt.
    Außerdem gibt es in Grönland nicht nur eine Sprache. Es gibt drei. Der Mann auf Jesajas Band spricht Ostgrönländisch. Einen südlichen Dialekt. Für mich ist er unverständlich.
    Ich bilde mir ein, am Tonfall hören zu können, daß er zu jemandem spricht. Aber er wird nicht unterbrochen. Es klingt, als spreche er in einer Küche oder einem Eßzimmer, denn ab und zu hört man etwas, das wie das Klappern von Besteck klingt. Und ab und zu Motorenlärm. Vielleicht ist es ein Generator. Oder das Gerätebrummen des Recorders.
    Der Mann erklärt etwas, das für ihn wichtig ist. Die Erklärung ist lang, eifrig, umständlich, aber auch mit langen Pausen. In den Pausen hört man, daß hinter seiner Stimme ein Rauschen liegt: vielleicht Musik, vielleicht der Klang eines Blasinstruments. Ein Rest von einer früheren Aufnahme, die nicht richtig gelöscht worden ist.
    Ich gebe es auf, verstehen zu wollen, was gesagt wird, und lasse die Gedanken treiben. Der Sprecher kann nicht Jesajas Vater sein, der Dialekt würde nicht stimmen.
    Die Stimme spricht einen Satz zu Ende und hält inne. Man hat offenbar die Pausentaste benutzt, denn es kommt kein Knistern. Die Stimme ist da, und im nächsten Augenblick hört man nur ein leeres Rauschen. Und weit weg, tief unten, den Rest einer fernen Musik.
    Ich lasse es rauschen und lege die Beine auf den Tisch.
    Ab und zu habe ich Jesaja Musik vorgespielt. Ich stellte die Lautsprecher zum Sofa, dicht an seine Schwerhörigkeit, und drehte auf. Er rückte nach hinten, gegen die Rückenlehne, und schloß die Augen. Oft

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