Peter Pan
feierlich. »Soll ich dir jetzt einen Fingerhut geben?«
»Wenn du magst«, sagte Wendy und hielt den Kopf aufrecht. Peter gab ihr einen Fingerhut, und im selben Augenblick fing sie an zu schreien. »Was ist, Wendy?«
»Jemand hat an meinen Haaren gezogen.«
»Das muß Tink gewesen sein. So frech war sie noch nie.«
Tatsächlich sauste Tink wieder durch die Luft und schimpfte hundsgemein.
»Sie sagt, das wird sie von jetzt an immer machen, wenn ich dir einen Fingerhut gebe.«
»Warum denn?«
»Warum, Tink?«
Wieder sagte Tink: »Du Blödmann.«
Peter verstand das alles nicht, aber Wendy verstand sehr gut. Sie war nur ein bißchen enttäuscht, als Peter sagte, daß er nicht ihretwegen gekommen sei, sondern weil er Geschichten hören wollte.
»Weißt du, wir kennen keine Geschichten. Keiner von den verlorenen Jungen kennt irgendeine Geschichte.«
»Wie fürchterlich!« sagte Wendy.
»Weißt du, warum die Schwalben über dem Fenster ihr Nest bauen?« fragte Peter. »Damit sie Geschichten hören. Ach Wendy, eure Mutter hat euch eine so schöne Geschichte erzählt.«
»Welche denn?«
»Von dem Prinzen, der das Mädchen mit dem glä-
sernen Schuh nicht finden konnte.«
»Das war Cinderella, Peter«, sagte Wendy aufgeregt, »und er hat sie gefunden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
Peter war so froh, daß er vom Boden aufsprang (wo sie gesessen hatten) und zum Fenster lief. »Wo willst du hin?« rief sie ängstlich.
»Ich will es den anderen erzählen.«
»Bleib doch, Peter, ich weiß noch eine Menge Geschichten.«
Das hatte sie gesagt, genau das, also kann man nicht abstreiten, daß sie es war, die ihn in Versuchung führte.
Er kam zurück, und es war ein gieriger Blick in seinen Augen, der sie hätte warnen müssen, aber nein …
»Ich könnte den Jungs Geschichten erzählen!« rief sie.
Da packte er sie und schleppte sie zum Fenster.
»Laß mich!« sagte sie gereizt.
»Wendy, komm doch mit und erzähl den anderen was!«
Natürlich gefiel es ihr sehr, wie er sie bat, aber sie sagte: »Nein, nein, das geht nicht. Wegen Mama! Und außerdem kann ich nicht fliegen.«
»Ich zeig es dir.«
»Ach, das war schön!«
»Ich zeig dir, wie man dem Wind auf den Rücken springt, und dann brausen wir los.«
»Uh!« rief sie entzückt.
»Wendy, Wendy, statt in deinem blöden Bett zu schlafen, könntest du mit mir herumfliegen und den Sternen lustige Sachen erzählen.«
»Uh!«
»Und Wendy, da gibt es Nixen.«
»Nixen! Mit Schwänzen?«
»So langen Schwänzen!«
»Ach«, rief Wendy, »einmal eine Nixe sehen!«
Peter war furchtbar schlau. »Wendy«, sagte er, »wir hätten alle großen Respekt vor dir.«
Sie wand sich verzweifelt – als müßte sie mit aller Kraft versuchen, auf dem Boden zu bleiben.
»Wendy«, sagte er hinterlistig, »du könntest uns jeden Abend ins Bett bringen.«
»Uh!«
»Keiner von uns ist jemals richtig ins Bett gebracht worden.«
»Uh!« Sie mußte ihn umarmen.
»Und du könntest unsere Hosen flicken und Taschen für uns machen. Keiner von uns hat Taschen.«
Wie konnte sie widerstehen? »Natürlich ist das schreck- lich verlockend!« rief sie. »Peter, würdest du auch John und Michael zeigen, wie man fliegt?«
»Wenn du willst«, sagte er gleichgültig.
Da lief sie zu ihren Brüdern und schüttelte sie. »Auf-wachen«, rief sie, »Peter Pan ist da und zeigt uns, wie man fliegt.«
John rieb sich die Augen. »Dann steh ich auf«, sagte er, und schon war er auf den Beinen. »Hallo, da bin ich!«
Michael war jetzt auch auf und guckte aufmerksam um sich. Da machte Peter plötzlich ein Zeichen: Sie sollten still sein. Ihre Gesichter bekamen den Ausdruck äußerster Wachsamkeit, alle standen mucksmäuschenstill. Dann war wieder alles in Ordnung. Halt, halt!
Nichts war in Ordnung. Nana, die den ganzen Abend verzweifelt gebellt hatte, war jetzt ruhig. Ihr Schweigen hatten sie gehört.
»Licht aus! Schnel ! Versteckt euch!« rief John. Es war das einzige Mal während des ganzen Abenteuers, daß er das Kommando übernahm. Als Liza mit Nana in das Kinderzimmer kam, schien alles ganz normal, und man hätte schwören können, daß die drei mißratenen Bewohner atmeten wie Engel im Schlaf. Sie standen aber hinter den Fenstervorhängen und taten bloß so – sehr gekonnt.
Liza ärgerte sich, weil sie in der Küche gerade den Weihnachtspudding anrührte, und nun war sie durch Nanas blödsinnigen Argwohn gestört worden; ihr klebte noch eine Rosine
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