Pfad der Seelen
verwirrt waren, sich noch nicht mit ihrer neuen Heimat abgefunden hatten. Ansonsten hatte ich keine Aussichten, dass einer von ihnen mich überhaupt bemerken würde – sie waren junge Seemänner, keine gesprächigen alten Frauen. Verzweifelt bahnte ich mir einen Weg durch das Unterholz am Rande der Klippen. Kein Weg führte nach unten. Der Strand geriet außer Sicht, und ich stolperte zurück zur Lichtung. Der Henkersbaum stand vor mir, seine Blätter unbewegt in der stillen Luft. Ich erschauerte. » Wo ist der Weg nach unten?«, brüllte ich den Kreis der Toten an. Nicht einer von ihnen sah auch nur auf.
Ich lief zurück zum Rand der Klippe. Zwei der frisch Verstorbenen waren zu den Felsen hinausgewatet und hatten sich dort hingesetzt, um still das Wasser zu betrachten.
Meine Zeit wurde knapp. Wenn ich mich von der Klippe warf, würde ich sicher sterben – falls ich hier überhaupt sterben konnte! Aber wenn ich nicht bald dort hinabgelangte, würde mich Enfield genauso sicher im Land der Lebenden töten.
Ich schrie auf, stieß ein riesiges, widerhallendes Heulen der Verzweiflung aus. Eine der kleinen Gestalten auf dem Strand blickte hoch und beschirmte das Gesicht mit der Hand. Im nächsten Augenblick flog er durch die Luft, um neben mir oben auf der Klippe zu landen.
Ich wusste nicht, wer überraschter war – er oder ich. Er war ein rauer Seemann, trug ein braunes Wams mit einem Ledergürtel und zerrissene Hosen. Salzwasser tropfte von seinen Kleidern, seinem ungepflegten Bart, seinem fettigen Haar. Er brüllte, zog ein Messer aus dem Gürtel und griff mich an.
» Halt!«, rief ich, ehe mir bewusst wurde, dass ich etwas sagen wollte. Und er hielt inne.
» Wie hast du das gemacht? Wie hast du mich zu dir heraufgeholt?«, sprudelte es aus ihm hervor. » Und wo bin ich?«
Er hatte noch nicht begriffen, dass er tot war. War das der Grund, weshalb es ihm möglich gewesen war, durch die Luft und die Klippe heraufzufliegen? Ich hatte noch nie gesehen, dass ein anderer Toter etwas Ähnliches tat – was war ihnen sonst noch möglich?
Mein Verstand raste schneller als jemals zuvor. Dies war meine Gelegenheit, wahrscheinlich meine einzige Gelegenheit. Er sagte noch einmal: » Wo bin ich?«
Ich antwortete: » Du bist in meinem Königinnenreich!«
Er beäugte mich, und Angst und Zweifel kämpften in seinem Blick um die Oberhand. » Du siehst nicht wie ’ n Prinz aus!«
Meine Kleider waren so ärmlich wie seine, und auch nicht viel trockener. Ich sagte: » Nein, natürlich nicht. Dies ist das Königinnenreich des … des Hexenlandes, und ich bin ein Hexenlehrling. Wie hätte ich dich sonst die Klippe herauffliegen lassen können?«
Die Angst siegte über den Zweifel. Der Seemann warf sich mir zu Füßen in das Unkraut und die Steine. » Hexenland! Oh, verschont mich, Sir … ähm, mein Lord … verschont mich!«
» Ich werde dich verschonen, wenn du mir alles über das Schiff erzählt, das dich hergebracht hat, über seine Fahrt und seinen Kapitän!«
Der Seemann, der noch immer auf dem Bauch lag, blickte mit einem Ausdruck zu mir auf, als wäre er ein Hund, der Prügel erwartet. Da fiel mir auf, was ich gleich zu Beginn hätte erkennen müssen. Sein Bart hatte den Großteil seines Gesichts bedeckt, aber seine flache Nase und sein großer Kopf, seine undeutliche Stimme und seine Verwirrung, als ich ihm drei Fragen auf einmal stellte, wiesen darauf hin: Dieser Mann war wie Cat Starling, aber ohne ihre Schönheit. Sein Verstand war der eines Kindes, und er war wie ein Kind, das nicht begreifen konnte, wo es sich befand und was mit dem Schiff geschehen war, oder weshalb sich die mörderischen Gewässer von einem Herzschlag auf den anderen beruhigt hatten.
» Erhebe dich«, sagte ich so gebieterisch, wie es mir möglich war. » Gut. Nun, sag mir: Wie war der Name des Schiffes?«
» Die Frances Ormund.« Er wandte sich zum Meer und verzog vor Verblüffung das Gesicht: Wohin war das Schiff verschwunden?
Ich wollte nicht, dass er nachdachte, sich erinnerte und Klarheit erlangte. » Sieh mich an. Nein, schau mich freiweg an … gut. Also, wer war der Kapitän?«
» Käpt ’ n James Conyers.«
» Gut. Wohin war sie unterwegs?«
» Zur Bucht von Carlyle.« Es schien ihn zu beruhigen, nur eine kurze Frage auf einmal vor sich zu haben – eine Frage, die er sicher beantworten konnte. Die Angst war nicht aus seinem unförmigen Gesicht gewichen, und auch das Messer lag noch in seiner Hand, aber ich spürte, dass er
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