Pfad der Seelen
Deine Zeit ist nicht gekommen. Noch nicht.«
Der erste Soldat sprach wieder: » Dennoch, Enfield, bin ich an das Gesetz gebunden.«
» Sir, dieser Abschaum verdient das Gesetz nicht! Bei allem Respekt, Sir … aber zehn Seeleute sind tot, und nur zwei haben überlebt! Und es war eine Frau an Bord, die Frau des Kapitäns selbst!«
» Ich verlange, einen Priester zu sehen!«, brüllte der blonde Jüngling.
Ein Stiefel verpasste ihm einen harten Tritt in die Flanke. Er keuchte auf und wand sich auf dem Boden.
» Enfield«, sagte die andere Stimme, aber es lag keine Warnung darin. Mit einem Mal wurde ich am Arm gepackt und auf die Füße gezerrt.
» Sir, lasst ihn zumindest sehen, was er angerichtet hat, ehe er baumelt! Stellt ihm die Überlebenden gegenüber!«
Der Offizier erhob keinen Widerspruch. Enfield zog mich zur Hütte. Unterwegs spuckte mir ein Soldat ins Gesicht. Zwei weitere Soldaten warfen zwei Schlingen über den hohen Ast einer großen Eiche.
Innerhalb der Hütte war es finster, nur eine einzelne Laterne brannte auf einem kleinen Tisch. Zwei Leute saßen in nassen, blutigen Kleidern dort. Einer hatte einen groben Verband um die Schläfen, und er saß stöhnend da, den Kopf in den Händen. Neben ihm eine Frau.
Sie war weder jung noch alt, ihr salzverkrustetes Haar, aus dem das Wasser auf ihr zerrissenes Kleid tropfte, war von Grau durchzogen. Ihr Gesicht war aufgedunsen, vom Salzwasser oder von Tränen. Kummer machte ihre Augen stumpf. Enfield stieß mich vor ihr auf die Knie.
» Der hier, Witwe Conyers, hat Euren Ehemann getötet und die Frances Ormund auf Grund laufen lassen – der hier!«
Sie blickte mich an. Ich bereitete mich auf den Schlag vor. Stattdessen sagte sie mit einem irgendwie hoffnungslosen Erstaunen: » Aber das ist nur ein Junge.«
» Er hat mit den Strandräubern zusammengearbeitet, Witwe. Das verdorbenste Ungeziefer, das es gibt … Er wird zusammen mit dem anderen baumeln.«
Ihre Stirn legte sich qualvoll in Falten. Ich konnte erkennen, dass sie noch nicht alles verarbeitet hatte: das Wrack, den Tod ihres Mannes, den Zufall ihres Überlebens. Sie war wie jene, die frisch im Land der Toten angekommen waren, verwirrt von dem Ort, an dem sie sich wiederfand, unfähig, dieses neue Umfeld schon zu verstehen.
Sie sagte: » Wie alt bist du, Junge?«
Mit einem Mal fand ich meine Stimme. Ich wollte leben. Zwei Henkersstricke baumelten draußen, und ich war noch nicht dazu bereit, in jenem anderen Land zu leben. Und ich sah – dürr und unterernährt wie ich war – jünger aus, als ich war, trotz meiner Größe. Ich fiel auf die Knie.
» Elf, Witwe Conyers. Und ich habe das Schiff nicht auf Grund laufen lassen! Mein Onkel hat mich hergebracht … er hat mich dazu gezwungen … ich habe es nicht gewusst … ich habe es nicht gewusst!«
Enfield knurrte: » Nicht nur ein Strandräuber, sondern auch noch ein plappernder Feigling.« Er packte mich, aber ich riss mich aus seinem Griff los und blieb auf den Knien.
» Bitte, Witwe, ich schwöre es Euch … ich habe es nicht gewusst! Und auch meine Tante war dort, mein Onkel hat auch sie umgebracht … haltet nach ihrer Leiche Ausschau! Sie war dürr und zerbrechlich … sie ist nicht von einem jener getötet worden, die an Land kamen … sie war die Schwester meiner Mutter!«
Noch einmal griff Enfield nach mir, diesmal deutlich beherzter. Aber die benommene, trauernde Witwe hob die Hand. » Nein, wartet, bitte … bitte.«
» Witwe Conyers, er würde alles sagen, um davonzukommen! Er lügt!«
» Ist … ist …« Es schien ihr schwerzufallen, ihre Gedanken aneinanderzufügen. » Ist die Leiche einer Frau am Strand gewesen?«
Ich ging davon aus, dass Enfield lügen würde, aber irgendwo inmitten seines Rachedurstes lag auch Wahrheitstreue – die er auch in meiner Geschichte gefunden hätte, hätte er sie nur gekannt. Nach einer langen Pause sagte er: » Ja.«
» Ermordet?«
» Ihr Schädel war eingeschlagen«, sagte Enfield zögerlich. » Aber das hätte dieser Bastard auch selbst sein können!«
» Nein«, sagte ich. » Tante Jo war die Einzige, die jemals freundlich zu mir gewesen ist.«
Und nun, da sie tot war, erkannte ich, dass auch das der Wahrheit entsprach. Meine Tante hatte mich nie vor Hartah beschützt, nein. Aber sie hatte mit mir das wenige Essen geteilt, das sie besaß. Sie hatte mir geraten, von genau dieser Lichtung zu flüchten. Sie hatte ihr Leben verloren, weil sie zum Strand herabgekommen war, um mir
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