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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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abermals zu sagen, dass ich weglaufen sollte. » Roger! Geh! Geh jetzt!«
    Und ich hatte nur Zorn für sie übriggehabt, Hass, weil ich zu viel Angst vor Hartah gehabt hatte, um diese Gefühle gegen ihn zu richten.
    Tränen brannten in meinen Augen. Für Tante Jo, für meine verlorene Mutter, für mich selbst. Dann überkam mich Scham – mit vierzehn Jahren war ich zu alt zum Weinen! Selbst elf wäre zu alt zum Weinen gewesen. Alles, was ich tun konnte, war, den Kopf hängen zu lassen. Aber ich wusste, dass es sowohl Enfield als auch die Witwe Conyers gesehen hatten.
    Sie sagte mit müder Stimme: » Lasst ihn leben. Er ist nur ein Kind.«
    » Das ist er nicht! Er spielt uns etwas vor, dieser lügnerische Feigling …«
    » Lasst ihn leben. Das ist mein Recht.«
    Enfield brüllte, zog mich auf die Beine und schleppte mich nach draußen. Er würde ihr kein Gehör schenken; er würde mich hängen. Aber er hielt mich nur unerbittlich fest und zwang mich dazu, mich zur großen Eiche umzudrehen.
    Eine Schlinge hing leer von dem hohen Baum. Die andere lag um den Hals des blonden Jünglings. Sein ganzer Körper bebte, und seine Augen rollten wild. Er brüllte etwas, aber seine Worte ergaben keinen Sinn. Drei Männer am anderen Ende des Seiles zogen, und der junge Strandräuber wurde von den Füßen und nach oben gerissen.
    Sein Zucken schien eine Ewigkeit zu dauern, er trat verzweifelt mit den Füßen um sich. Die Männer knüpften das andere Ende des Seils um einen weiteren Stamm. Das Seil riss die Baumrinde auf, während der Gehängte um Luft kämpfte, sein Gesicht verzerrt, während er baumelte, seine Füße traten und traten und traten …
    Schließlich fanden die Bewegungen ein Ende.
    Enfield zog sein Messer und schnitt meine Fesseln durch. Er schubste mich zu Boden, wo ich lag und zu ihm aufblickte.
    » Geh jetzt«, sagte er. » Lauf. Es ist ihr Recht.«
    Aber auch der Tote hatte das Recht gehabt, einen Priester zu sehen, und sie hatten ihn ohne Priester gehängt. Mit einem Blick auf Enfields Gesicht erkannte ich, dass ich es keine zwanzig Schritt weit in den Wald schaffen würde, ehe er oder einer der anderen mich mit ihrem Schwert aufspießten. Oder Schlimmeres. Die Witwe Conyers würde es nie erfahren.
    Ihr Kleid, so verwahrlost und zerrissen es auch war, war aus reich besticktem Samt angefertigt.
    Sie war die Frau des Kapitäns gewesen.
    Enfield gehorchte ihr, solange sie ihn im Blick hatte.
    Ich kam auf die Beine. Aber anstatt zum Wald oder zu dem Pfad zu laufen, der von der Lichtung führte, rannte ich zurück in die Hütte und warf mich der Witwe Conyers vor die Füße.
    » Meine Lady! Bitte … wenn ich gehe, töten mich die Soldaten! Nehmt mich mit Euch!«
    Der Zorn ließ ihre Wangen schließlich ein wenig erröten. » Wie kannst du es wagen … mein Mann …«
    Ich sagte: » Ich kann Euch Nachricht von ihm aus dem Land der Toten bringen!«
    » Wachen! Wachen!«
    Ich tat das Einzige, was mir blieb. Ich warf mich gegen die Tischkante, so fest ich nur konnte, und zielte auf die Ecke, damit sie mich an der Stirn traf. Schmerzen durchdrangen mich wie Feuer, große, scharfe Blitze aus Schmerz, die auf meinen Kopf einstachen; und die Stube wurde schwarz.
    Ich betrat den Pfad der Seelen.

6
    Ich stand auf derselben Lichtung, auch wenn die Hütte nicht mehr da war. Neun Tote saßen mit übergeschlagenen Beinen in einem Kreis und hielten sich bei den Händen, und ich war im Mittelpunkt ihres Kreises aufgetaucht. Sie schenkten mir keine Beachtung oder sahen mich nicht – oder es kümmerte sie nicht. Ich stieg über sie hinweg und machte mich über die Lichtung zum Pfad auf, der hinab zu dem Strand führte.
    Es gab keinen Pfad.
    Das Meer lag unter mir, still und grau unter dem ewig ruhigen Himmel. Ich stand auf dem Gipfel einer steilen Klippe, viel steiler als sie im Land der Lebenden gewesen war. Es gab keinen Weg hinab. Weit unten bewegten sich kleine Gestalten auf dem steinigen Strand, obwohl vom Schiff keine Spur zu sehen war, weder auf dem Wasser noch zerschmettert auf den Felsen.
    War eine dieser Gestalten Hartah? Und eine andere meine Tante Jo?
    Ich schob den Gedanken beiseite, sonst wäre ich handlungsunfähig geworden. Ich musste bald zum Strand hinabgelangen. Die frisch Verstorbenen machten immer eine Phase der Verwirrung durch, in der man mit ihnen sprechen konnte, in der sie antworten würden – aber diese Phase war sehr kurz. Ich musste zum Strand gelangen, während die Toten von der Frances Ormund noch

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