Pfade Ins Zwielicht
entgegen, da sie sie verdiente, aber es fiel ihr schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie bildhübsch war. Diesen Teil von ihr hatte sie bis vor kurzem erfolgreich ignorieren können.
Essande schüttelte missbilligend den Kopf, da sie sich nicht darüber im Klaren war, dass es sich bei der Brosche um ein Angreal handelte. Bernstein passte nicht zu blauem Samt. Vielleicht war es auch Aviendhas Messer mit dem Horngriff, das sie hinter den grünen Samtgürtel steckte. Die weißhaarige Frau achtete darauf, dass Elayne einen kleinen Dolch mit Saphiren auf der Scheide und am Knauf trug, der an einem Gürtel aus Webgold hing. Alles musste so sein, wie es sein sollte, um Essandes Zustimmung zu finden.
Rasoria sah zweimal hin, als Aviendha das Vorzimmer in Samt betrat. Die Gardistinnen hatten sie noch nie zuvor in etwas anderem als der Aieltracht gesehen.
Aviendha runzelte die Stirn, als hätten sie gelacht, und umklammerte den Gürteldolch fest, aber glücklicherweise wurde ihre Aufmerksamkeit von einem mit einem Tuch abgedeckten Tablett abgelenkt, das auf einem langen Seitentisch an der Wand stand. Während sie sich angezogen hatten, hatte man Elaynes Mittagessen gebracht. Aviendha riss das blau gestreifte Tuch zur Seite und versuchte Elayne für das Essen zu interessieren, sie lächelte und wies darauf hin, wie süß das Kompott aus getrockneten Pflaumen doch sein würde, und war entzückt über das Schweinefleisch in Brei. Rasoria räusperte sich und erwähnte, dass in dem größeren Wohnzimmer der Gemächer ein ordentliches Feuer loderte. Sie wäre mehr als glücklich, für Lady Elayne das Tablett hinübertragen zu dürfen. Jeder versuchte, Elayne dazu zu bringen, doch vernünftig zu essen, was sie als »vernünftig« betrachteten, aber das hier war lächerlich. Das Tablett hatte bereits einige Zeit dort gestanden. Der Brei war eine erstarrte Masse, der in der Schüssel kleben geblieben wäre, hätte sie sie umgekippt!
Die vier Hohen Herrinnen und Hohen Herren von vier Häusern warteten auf sie, und sie hatten lange genug gewartet. Sie machte darauf aufmerksam, bot den beiden jedoch an, etwas zu essen, falls sie hungrig waren. Tatsächlich deutete sie an, sogar darauf zu bestehen, dass sie etwas aßen. Das reichte, um Aviendha mit einem Schauder das Tuch über das Tablett decken zu lassen, und auch Rasoria verschwendete keine Zeit mehr.
Es war nur ein kurzer Weg durch den eisigen Korridor zum Gästewohnzimmer, und das Einzige, was sich außer ihnen bewegte, waren die hellen Winterwandbehänge, die in der Zugluft wehten, aber die Gardistinnen bildeten einen Ring um Elayne und Aviendha und hielten Ausschau, als würden sie Trollocs erwarten. Es kostete Mühe, Rasoria davon zu überzeugen, dass es unnötig war, vor ihrem Eintreffen das Wohnzimmer zu durchsuchen. Die Gardistinnen dienten Elayne und gehorchten ihr, aber sie hatten auch geschworen, ihr Leben zu beschützen, und sie konnten bei dieser letzten Pflicht so stur sein wie Birgitte, wenn sie sich entscheiden musste, ob sie in diesem Augenblick Behüterin, Generalhauptmann oder ältere Schwester war. Beim Licht, nach dem Zwischenfall mit Zaida würde Rasoria vermutlich wollen, dass die wartenden Adligen ihre Waffen ablegten! Die Drohung mit dem Brei mochte auch eine Rolle spielen. Aber nach einer kurzen Debatte rauschten Elayne und Aviendha Seite an Seite durch die breite Tür, und zwar allein. Elaynes Gefühl der Zufriedenheit hielt jedoch nicht lange an.
Das Wohnzimmer war geräumig und für den bequemen Aufenthalt von einem Dutzend Menschen gedacht, ein mit dunklem Holz getäfelter Raum mit Schichten aus Teppichen auf den Fliesen und hochlehnigen Stühlen, die man in Hufeisenform vor dem riesigen Kamin aus weißem, rotgeädertem Marmor aufgestellt hatte. Hier konnte man wichtige Würdenträger mit größeren Ehren als bei einer Audienz im Thronsaal empfangen, weil es intimer war. Das lodernde Feuer im Kamin hatte kaum genug Zeit gehabt, um die schneidende Kälte zu erwärmen, aber das war nicht der einzige Grund, warum sich Elayne fühlte, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Jetzt verstand sie Birgittes Verblüffung.
Bei ihrem Eintreten wandte sich Dyelin vom Kamin ab, wo sie ihre Hände gewärmt hatte. Sie war eine Frau mit markanten Zügen und feinen Fältchen in den Augenwinkeln und Spuren von Grau im blonden Haar, und sie hatte sich bei ihrer Ankunft im Palast nicht mit Umziehen aufgehalten, sondern trug noch immer ein
Weitere Kostenlose Bücher