Pfade Ins Zwielicht
Pflicht vor dem Vergnügen. Und das galt doppelt, wenn man versuchte, den Thron zu erringen.
Aviendha zog das Handtuch vom Kopf und schüttelte ihr Haar aus, offensichtlich erleichtert, dass sie nicht wieder ins Wasser steigen musste. Sie ging auf das Ankleidezimmer zu, streifte unterwegs die Robe ab und war fast schon vollständig bekleidet, als Elayne und die Zofen eintraten. Sie ließ Naris ohne allzu großen gemurmelten Protest den Rest erledigen, obwohl kaum etwas übrig blieb außer in den schweren Wollrock zu steigen. Aber sie schlug die Hände der Zofe weg und verschnürte die weichen, kniehohen Stiefel selbst.
Für Elayne war das nicht so einfach. Solange kein Notfall drohte, fühlte sich Essande zurückgesetzt, wenn sie nicht vorher ihre Garderobe besprachen. Mit eng vertrauten Dienern galt es immer, ein zerbrechliches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Ausnahmslos jede Leibdienerin kannte mehr Geheimnisse von einem, als man glaubte, und sie erlebte einen in den schlimmsten Augenblicken, wenn man schlechter Laune oder müde war, wenn man in sein Kissen weinte, bei Wutausbrüchen und wenn man schmollte. Es musste ein beidseitiger Respekt vorhanden sein, oder die Situation wurde unmöglich. Also saß Aviendha auf einer Polsterbank und ließ zu, dass Naris ihr das Haar auskämmte, bevor Elayne sich für ein schlichtes graues Gewand aus feiner Wolle entschied, dessen hoher Kragen und Ärmel mit grünen Stickereien verziert und dessen Säume mit schwarzem Fuchspelz abgesetzt waren. Es lag nicht so sehr daran, dass sie sich nicht entscheiden konnte, sondern dass Essande mit Perlen oder Saphiren oder Feuertropfen bestickte Seidengewänder vorlegte, von denen jedes noch aufwändiger verziert war als das vorherige. Obwohl ihr der Thron noch nicht gehörte, wollte Essande sie jeden Tag wie eine Königin kleiden, die Audienz hielt.
Das hatte in gewisser Weise Sinn gemacht, als jeden Tag Kaufmannsdelegationen gekommen waren, um Petitionen einzureichen oder ihr ihren Respekt zu erweisen, vor allem Ausländer, die hofften, dass die Auseinandersetzungen in Andor nicht ihre Geschäfte behindern würden. Das alte Sprichwort, dass derjenige, der Caemlyn beherrschte, auch Andor beherrschte, entsprach nicht unbedingt der Wahrheit, und in den Augen der Kaufleute waren ihre Chancen, den Thron tatsächlich zu besteigen, nach Arymülas Aufmarsch vor den Toren deutlich gesunken. Sie konnten die auf jeder Seite versammelten Häuser so genau zählen wie ihr Geld. Selbst andoranische Kaufleute mieden mittler weile den Palast und betraten die Innenstadt so wenig wie möglich, nur damit niemand auf die Idee kam, sie hätten den Palast besucht, und die Bankiers kamen vermummt in anonymen Kutschen. Niemand wünschte ihr etwas Böses, das war ihr klar, und mit Sicherheit wollte sie auch niemand verärgern, aber sie wollten auch Arymilla nicht verärgern, vor allem jetzt nicht. Immerhin kamen die Bankiers noch, und bislang hatte sie noch nicht gehört, dass Kaufleute sich mit ihren Petitionen an Arymilla gewandt hatten. Das würde das erste Zeichen sein, dass ihre Sache verloren war.
Das Gewand anzuziehen dauerte doppelt so lange, wie es hätte dauern dürfen, da Essande Sephanie erlaubte, Elayne dabei zu helfen. Die ganze Zeit über atmete das Mädchen schwer, sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, eine andere Person anzukleiden und hatte Angst, unter Essandes strengen Blicken Fehler zu machen. Vermutlich sogar mehr, als sie vor ihrer Her - rin zu machen, dachte Elayne. Nervosität machte die mollige junge Frau ungeschickt, die Ungeschicklichkeit führte dazu, dass sie sich noch größere Mühe gab, was wiederum dazu führte, dass sie noch mehr befürchtete, Fehler zu machen. Als Resultat bewegte sie sich noch langsamer, als es die alte und hinfällige Frau je getan hatte. Aber endlich saß Elayne Aviendha gegenüber und ließ Essande ihre Locken mit einem Elfenbeinkamm bearbeiten. Einem der Mädchen zu erlauben, Elayne ein Unterhemd über den Kopf zu ziehen oder einen Knopf zuzuknöpfen, war Essandes Ansicht zufolge eine Sache, aber das Risiko einzugehen, dass sie ihre Frisur durcheinander brachten, eine ganz andere.
Aber der Kamm hatte noch keine zwei Dutzend Striche gemacht, als Birgitte in der Tür erschien. Essande schniefte, und Elayne konnte förmlich vor ihrem geistigen Auge sehen, wie die Frau hinter ihr das Gesicht verzog. Essande hatte es - wenn auch nur widerstrebend - aufgegeben, sich darüber zu ärgern, dass Birgitte
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