Pferde, Wind und Sonne
Hinter einem Wassergraben, gerade neben der Straße, grasten friedlich zwei Schimmel. Es waren gedrungene Tiere mit runden Rücken, üppiger Mähne und zottigem Haar. Aus sanften dunklen Augen betrachteten sie ohne Scheu die Touristen, die sie streicheln wollten und zu ihnen vordrangen, soweit es der feste Boden erlaubte.
Frau Colomb lächelte über Karins Begeisterung.
»So! Jetzt sind wir den drei berühmtesten Exemplaren der einheimischen Fauna begegnet. Bist du nun zufrieden?«
»Es ist... ganz toll!« stieß Karin einfältig hervor.
Es fehlten ihr einfach die Worte. Die Camargue erschien ihr wie ein wunderbares großes Bilderbuch.
»Ach was!« sagte unbeeindruckt Mireille. »Das ist nur eine Frage der Zeit. In ein paar Tagen wird dich selbst eine stürmende Herde kühl wie eine Gurke lassen!«
Karin tat so, als hörte sie nicht, und brach weiterhin beim Anblick eines jeden Pferdes in lautes »Ah!« und »Oh!« aus.
Da sie jedoch im Verlauf einer Viertelstunde eine große Anzahl Pferde zu sehen bekam, legte sich allmählich ihre Aufregung. Der Reiz des Neuen verschwand. Mireille hatte recht: Es war Gewohnheit!
Binsen und Sträucher wurden spärlicher. So weit die Sicht reichte, zog sich die Straße durch eine eintönige Ebene dahin. Der Boden wirkte karg; er war schmutziggrau, rissig und salzverkrustet.
»Diese weiten Flächen nennt man Sansouires«, erläuterte Frau Colomb. »Siehst du die dunkelgrauen Büschel? Das sind Salicornia, das heißt Pflanzen, die salzige Erde lieben. Hier wächst auch die lila Saladellenblume, das Wahrzeichen unseres Gardians.«
Mireille beugte sich vor, um Karin auf etwas am Horizont aufmerksam zu machen. »Dort ist schon Saintes-Maries-de-la-Mer zu sehen.«
»Die Ortschaft hat sich in den letzten Jahren sehr verändert«, sagte Frau Colomb, »leider nicht zum Guten.«
Karin kniff die Lider zusammen. Dort, wo der dunstig-glänzende Horizont die Ebene zu begrenzen schien, glimmerte im Sonnenlicht eine weißliche Linie. Je mehr sich der Wagen näherte, desto deutlicher konnte man helle, gleichgestaltete Häuser zu beiden Seiten der Straße erkennen. Einige typische getünchte Hütten mit Binsendach spiegelten sich im Wasser eines Salzteiches. Aus der Nähe wirkte die Gegend eintönig und reizlos. Ein neues Wohnviertel war hier entstanden. Zwischen den Stein- und Betonbauten verkündeten grellbunte Schilder: »Eigentumswohnungen zu verkaufen«, und versprachen günstige Abzahlungsmöglichkeiten. Andere Schilder forderten zu »Spazierritten« auf. Angeführt von einem Operetten-Gardian, zog soeben eine schwerfällige Reitergruppe vorbei. Sie trugen Stiefel, breitkrempige Hüte und bunte Falztücher nach bester »Western«-tradition.
Mireille schnaubte vor Verachtung. »Hier kann jeder Blödian sich einen dreistündigen Ritt über zwanzig Kilometer kreuz und quer durch die Gegend kaufen, genauso wie man ein Paket tiefgekühlte Bohnen im Supermarkt kaufen kann.«
»Das Reiten ist sicher eine gute Sache für Leute, die das Stadtleben bedrückt«, sagte Frau Colomb; »aber alles hat seine Grenzen. Leichte Verdienstmöglichkeiten führen häufig zu Mißbrauch. Erst kürzlich mußte sich die französische Liga zum Schutz der Pferde einschalten. Die Pferde, die für diese Reitausflüge vermietet werden, waren unterernährt und wurden unter erbärmlichen Verhältnissen gehalten.«
Niedergeschlagen erinnerte sich Karin an Finettes Worte: »Der Mensch verdient das Paradies nicht. Er kann es nur verderben oder verwüsten.«
»Gott sei Dank gibt es die echte Camargue noch«, fuhr Frau Colomb fort, »auch wenn sie sich abseits verbirgt und sich mit Stacheldraht umgeben muß, um den Frieden zu erhalten.«
Sie war vor den Neubauten abgebogen und fuhr jetzt auf einem sandigen Weg einen kleinen Kanal entlang.
Wind fuhr durch die Binsen, die in dichten Garben auf den ausgedörrten, rissigen Böschungen wuchsen.
»Wir sind gleich da«, sagte Mireille.
»Wo?« gab Karin verdutzt zurück. »Ich sehe nichts.«
Frau Colomb lachte. »Die Camargue ist ein Land voller Überraschungen.« Sie schaltete in den ersten Gang, um vorsichtig an einer seichten Stelle den Kanal zu überqueren. Ein schmaler Pfad führte zwischen dem Schilf hindurch.
Karin sah ein gespaltenes Holzschild, das an einem schiefen Pfahl hing. Sie konnte im Vorbeifahren die eingeschnitzte Inschrift »Mas de la trinité« lesen. Immer noch verdeckten die hohen Binsen die Aussicht. Das Rauschen des Windes drang durch das offene
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