Pferde, Wind und Sonne
nicht, daß du dein Leben aufs Spiel setzt.«
»Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein.« In seiner Verwirrung gab Alain ein wenig nach, was seiner Natur widersprach. »Da ich jetzt weiß, daß man sich ihm nähern kann, werde ich mich anders verhalten. Ich streife ihm den Zügel über und...«
»Und brichst dir den Hals dabei oder wirst von seinen Hufen getroffen. Genug, Alain!« Tante Justines Stimme wurde schneidend. »Ich verbiete dir... hörst du? Ich verbiete dir ein für allemal, dieses Tier zu verfolgen. Und du weißt, daß das nicht in die Luft gesprochen ist.«
Niedergeschlagen stand Alain vor ihr. Zorn verhärtete seine Züge.
»Ich weiß, wie dir zumute ist«, fuhr Tante Justine fort, »aber du mußt dich von den Tatsachen überzeugen lassen. Das Pferd ist wahnsinnig, verstehst du?«
» >Glanzstern< ist nicht wahnsinnig«, mischte sich Karin mit zitternder Stimme ein. »Er mißtraut den Menschen, weiter nichts.«
Alain sah sie verwundert an. Zweifellos hatte er nicht erwartet, daß sie sich für ihn einsetzen würde.
Tante Justine zuckte nur die Schultern. »Das läuft aufs gleiche hinaus. Im übrigen habe ich genug davon. Ich werde das Tier fortschaffen, bevor es nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichtet. Wenn ich innerhalb von acht Tagen keinen Käufer finde, treffe ich eine andere Lösung.«
Karin stand wie benommen da. Es war, als hätte man ihr einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Sie wußte, daß nur Alains dummes Verhalten Tante Justine zu dieser Maßnahme zwang. Wieder begegnete sie seinem Blick, und sie las darin zum ersten Mal eine gewisse Zusammengehörigkeit, die aus der gleichen Angst und Machtlosigkeit hervorging. Die eisige Stille, die folgte, wurde von Hufschlägen im Hof unterbrochen: die Gardians kehrten zurück. Regine kam mit gerötetem Gesicht aus der Küche und meldete, daß das Essen bereit sei.
Die Mahlzeit verlief in düsterer Stimmung. Nachdem die Männer von Tante Justine über den Vorfall unterrichtet worden waren, stellten sie Vermutungen darüber an, wer >Glanzstern< wohl verbunden haben könnte.
»Vielleicht war es jemand aus Martigues oder Albaron«, meinte Pierre.
»Oder ein Zigeuner«, bemerkte Nicolas mit vollem Munde. »Diese Leute verstehen sich vortrefflich darauf, die Tiere zu beruhigen.«
»Die alte Thyna hat ihn wohl am Hasch riechen lassen«, grinste Manuel, worauf alle lachten, außer Alain, der wie ein Holzklotz dasaß, und Karin, die ihre Nase in den Teller steckte. Den Gardians war alles ein Rätsel. Aber einstimmig billigten sie Tante Justines Entschluß.
Constantin wandte sich an Alain, der verstockt schwieg, und versuchte, ihm verständnisvoll und freundschaftlich zuzureden. »Wir alle wissen, daß es hart für dich ist, Alain. Aber du mußt Vernunft annehmen. Du kannst dich diesem Tier nicht anvertrauen. >Glanzstern< ist ein schönes Pferd, aber an Freiheit gewöhnt. Was man ihm angetan hat, ist nicht wiedergutzumachen. Die Chefin hat recht. Es ist besser, den Hengst fortzugeben, bevor er noch ein Unglück verursacht.«
Alain spießte einen Happen Fleisch nach dem anderen auf und legte sie an den Rand des Tellers. Sein Gesicht war unbeweglich, fast gleichgültig. Nichts - ausgenommen vielleicht die automatischen Bewegungen - verriet seinen Zorn. Aber Karin spürte, wie heftig dieser Zorn war. Auch sie hatte keinen Appetit. Es war ihr, als würden selbst das mit Thymian und Lorbeerblättern gewürzte Fleisch und der Safranreis nach dem Sumpf riechen.
Gleich nach dem Kaffee machten sich die Gardians wieder auf den Weg zur Weide, und Tante Justine verschwand in ihrem Arbeitszimmer. Nachdem die drei Regine beim Abräumen geholfen hatten, blieben sie alleine im Wohnzimmer zurück. Draußen brannte die Sonne. Nur das Zirpen der Grillen und das schwerfällige gleichmäßige Ticken der Standuhr waren zu hören. Alain konnte endlich seinen Gefühlen Luft machen.
»Hol sie der Teufel, alle miteinander! Wenn die glauben, daß ich nachgeben werde, dann irren sie sich!«
»Tante Justine haßt nichts so sehr, als wenn man ihr widerspricht«, bemerkte Mireille beiläufig.
»Und ich hasse es, wenn man sich über mich lustig macht!« fauchte Alain. »Wenn du dieses Pferd einfängst, soll es dir gehören«, äffte er seine Tante bissig nach. »Und plötzlich heißt es: Schluß...! Aus! Nur weil es ihr so paßt!« Er bohrte mit seinem Zeigefinger wütend an der Schläfe. »Soll ich euch mal etwas sagen? Nicht der Gaul ist verrückt, sondern
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