Pferde, Wind und Sonne
meine Tante! Aber so einfach, wie sie denkt, geht das nun doch nicht. Sie hat mir >Glanzstern< versprochen, und ich werde sie zwingen, Wort zu halten.«
»Ich wünsche dir dabei viel Glück«, antwortete Mireille in aller Gemütsruhe. »Viel Zeit bleibt dir nicht.« Ihr Blick fiel plötzlich auf Karin. »Was ist denn mit dir los? Du siehst ja auch ganz bleich aus!«
»Ach, nichts...« Karin rang sich ein Lächeln ab. »Ich... ich fühle mich ein bißchen komisch, das ist alles.«
Mireille seufzte erschöpft. »Was für ein Tag! Das Pferd verrückt, der Bruder hysterisch, die Tante außer sich, alles zusammen ist sehr schlecht für die Verdauung. Komm, wir halten Siesta!« Alain blieb allein mit seinem Kummer. Die beiden Mädchen gingen auf ihr Zimmer. Sie zogen die Jeans aus und ließen sich aufs Bett fallen. Beide schwiegen. Karin starrte mit weit geöffneten Augen an die Holzdecke. Der große weiße Hengst ging ihr nicht aus dem Sinn. Jetzt kam noch die Angst um ihn hinzu. Es lag nicht in Tante Justines Wesen, leere Worte daherzureden. Nur schon bei dem Gedanken, daß >Glanzstern< an irgendeinen Pferdehändler verkauft werden sollte, spürte Karin, wie sich ihr der Magen umdrehte. Zu ihrer eigenen Verwunderung fühlte sie sich Alain auf einmal viel näher als Mireille. Nichts, was er empfand, war ihr fremd. Einen Augenblick lang war sie versucht, zu ihm hinunterzugehen, um ihm zu erzählen, was sich in jener Nacht ereignet hatte; aber es fehlte ihr an Mut. Wenn Alain sie verdächtigte, daß sie das Pferd für sich gewinnen wollte, würde sie sein Mißtrauen und seinen Zorn erwecken.
Der Gedanke, der ihr schon am Ufer des Sees, nach Alains Rettung, in den Sinn gekommen war, drängte sich ihr immer stärker auf. Sie mußte >Glanzstern< ausfindig machen. Ihr Einfühlungsvermögen sagte ihr, daß nur sie allein den Hengst beruhigen, daß er nur durch sie die Furcht vor den Menschen verlieren konnte. Diese Erkenntnis ließ sie nicht mehr los. Es kam vorläufig noch nicht in Frage, Mireille ins Vertrauen zu ziehen; sie mußte allein handeln. Nach und nach fügten sich die praktischen Einzelheiten ihres Planes zusammen; zuerst die Nacht abwarten. Mireille hatte einen tiefen Schlaf; sie würde Karin nicht hören, wenn sie das Zimmer verließ. Die Pferde standen im Hof angebunden. >Rosa< ließ sich ohne Schwierigkeiten satteln. Es war Vollmond und hell genug, um sich orientieren zu können. Außerdem kannte sie jetzt die Gegend.
Alain? Den Gedanken an ihn ließ sie gar nicht erst in sich auf-kommen. Zum Teufel mit den Bedenken! Damit konnte sie sich später noch befassen. Zuerst mußte sie an das Pferd denken...
Zehntes Kapitel
Die Standuhr schlug elf. Nacheinander fielen die dumpfen Schläge in die Stille. Karin lauschte gespannt. Im »Mas« schienen alle zu schlafen. Im Bett nebenan atmete Mireille langsam und friedlich. Karin hatte eiskalte Füße und feuchte Hände. Jetzt, wo der Augenblick gekommen war, zögerte sie. Wenn sie sich im Sumpf verirrte? Oder plötzlich einem wilden Stier gegenüberstand? Sie nannte sich einen Angsthasen und zwang sich, aufzustehen. Lautlos setzte sie die bloßen Füße auf den Boden. Im Halbdunkel zog sie sich die Jeans, ein Hemd und einen Pullover an. Mit den Stiefeln in der Hand öffnete sie die Tür und schlüpfte hinaus. Ein paarmal ließen sie die knarrenden Stufen mit Herzklopfen anhalten. Endlich hatte sie die Haustür erreicht. Ihre zitternden Finger hatten Mühe, den Riegel zurückzuziehen, doch schließlich gelang es ihr. Draußen zog sie die Stiefel an und schritt auf das Schutzdach zu, wo die Pferde standen. Es war nicht leicht, >Rosa< im Dunkeln zu satteln. Die Stute wieherte leise und blähte den Bauch so stark sie konnte, als Karin den Gurt anschnallte.
»Mach keine Geschichten!« flüsterte sie ärgerlich. »Komm, wir machen einen Mondscheinritt.«
Sie band ihr Reittier los und saß auf. >Rosa< schnaubte und setzte sich widerwillig in Bewegung. Der klare, silbrig glänzende Mond stand hinter den schwarzen Bäumen; die Zweige schaukelten sanft im Wind. Erstaunt bemerkte Karin, daß sie fröstelte. Nachdem sie den Hof verlassen hatte, hielt sie das Pferd einen Augenblick an, um auf die Geräusche der Nacht zu lauschen.
Seltsamerweise war ihre Angst wie verflogen. Sie spornte ihr Pferd an und schlug den Weg zum Strand ein.
Sie ritt an einer Umzäunung vorbei, hinter der die hellen Körper der Pferde am Boden ruhten, und durchquerte einen Buschwald.
Weitere Kostenlose Bücher