Pferde, Wind und Sonne
Im Dickicht raschelten kleine, unsichtbare Geschöpfe der Nacht. >Rosa< stampfte mit weit ausholenden Schritten vorwärts. Plötzlich schob sich eine Wolke vor den Mond, und es wurde stockdunkel. Ein Schwirren im Blätterwerk ließ Karin vor Schreck zusammenfahren. Unwillkürlich zog sie den Kopf zwischen die Schultern, als die Flügel einer Eule die Zweige streiften. Karin klopfte das Herz bis zum Hals, und die Schläge schienen ihr laut in der Finsternis widerzuhallen. Sie atmete auf, als sie endlich aus dem Gehölz heraus war. >Rosas< Hufe schlugen fest auf den harten Sand der Sansouires. In der Ferne glaubte Karin die dunkel glänzende Oberfläche der Seen zu erkennen. Jetzt glitt der Mond unter der Wolke hervor. Die Landschaft zeichnete sich im scharf unterscheidenden Schwarzweiß ab.
Karin hielt ihr Pferd in regelmäßigen Abständen an und lauschte. Lange Zeit hörte sie nichts. Dann aber war es ihr, als hätte sie in der Nähe der Dünen ein Geräusch gehört, das Schnauben eines Pferdes. Sie lenkte >Rosa< in diese Richtung. Die weichen Linien der Dünen zogen sich vor ihr hin. Plötzlich durchlief >Rosa< ein Zittern, und sie wieherte laut. In der Ferne beantwortete ein Pferd ihren Ruf. >Rosa< beschleunigte den Schritt. Ihre Hufe gruben sich in den feuchten Sand ein. Bevor Karin das Meer erblickte, hörte sie schon das regelmäßige Auf klatschen des Wassers hinter den ginsterbedeckten Hügeln. Dann wurde das helle Band des Strandes sichtbar. Das Meer schimmerte wie ein riesiger dunkler Spiegel. Im gleichen Augenblick, als sie die Pferde sah, war Karin sicher, daß es sich nur um >Glanzsterns< Herde handeln konnte. Ihre Anwesenheit schien die Tiere nicht zu stören. Einige rupften an dem dürren Gras am Fuße der Dünen. Andere lagen im Sand und schienen zu schlafen. Ein wenig abseits scharrte ein kräftiger Hengst im Sand. Im Mondschein sah Karin, daß er einen dunklen Fleck an der Stirn hatte. Vergeblich suchte sie mit den Augen den Strand und die Dünen nach >Glanzstern< ab. Wo war der Hengst nur? Vielleicht hielt er sich seit seinem Unfall der Herde fern? >Rosa< kaute ungeduldig am Gebißeisen und zog an den Riemen. Karin hielt sie zurück. Sie wollte die Pferde nicht beunruhigen, indem sie sich ihnen noch mehr näherte. Auf einmal überfiel sie Mutlosigkeit. Müdigkeit lastete auf ihr, und sie wollte umkehren. Wozu noch länger suchen?
Im gleichen Augenblick, als sie ihr Reittier antrieb, ließ ein leises Geräusch sie den Kopf wenden. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand >Glanzstern< auf der höchsten Düne und beobachtete sie mit erhobenem Kopf. Seine dichte, lange Mähne glänzte.
Karin glitt aus dem Sattel. Mit sicherer Bewegung fesselte sie >Rosa< die Vorderbeine, wie sie es bei den Gardians gesehen hatte, wenn diese ihre Reitpferde für kurze Zeit sich selbst überließen. Dann stieg sie den Dünenhang hinauf. Unbeweglich stand der Hengst da, als sie sich ihm näherte. Karin wußte, daß das Pferd jeden Augenblick angreifen, sie wie einen Strohhalm umwerfen konnte. Dennoch verspürte sie nicht die geringste Furcht. Jetzt war sie ihm ganz nahe. Behutsam streckte Karin die Hand aus und berührte seine Stirn. Ein Beben durchlief das weiße Fell. Das Pferd neigte den Kopf. Seine Nüstern weiteten sich, während es Karin beschnupperte. Der Seden, den Alain ihm am Morgen übergeworfen hatte, hing locker um seinen Hals. Karin streifte ihn über die Mähne und ließ ihn zu Boden fallen. »So ist es besser«, sagte sie.
> Glanzstern< bewegte die Ohren. Karin lächelte. Sie streichelte seinen Hals, die Flanke, während sie sich zu dem verletzten Bein niederbeugte. Der Verband war hart vom getrockneten Lehm. Karin kramte in den Taschen ihrer Jeans. Zum Glück hatte sie e m Taschentuch bei sich. Ihre Finger plagten sich damit ab, den festen Knoten aufzuknüpfen. Soweit sie beurteilen konnte, heilte die Wunde gut. Dennoch legte sie mit dem Taschentuch einen neuen Verband an, um die Verletzung vor Zweigen und Dornen zu schützen. Zufrieden richtete sie sich auf. >Glanzstern< hatte sich nicht gerührt. Vorsichtig legte Karin die Arme um seinen Hals und lehnte ihr Gesicht an seinen Kopf. Sie hörte ihn friedlich an ihrer Schulter atmen. Eine Weile verharrte sie, angeschmiegt an den warmen Körper.
Plötzlich wurde ein kurzes, scharfes Wiehern vom Strand her hörbar. Im Nu war >Glanzstern< wachsam. Jäh sprang er zur Seite, die Muskeln gespannt. Der kräftige Hals blähte sich, und ein Schnauben drang aus
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