Pferde, Wind und Sonne
seiner Kehle. Karin wich zurück. Mit einem einzigen Satz schnellte der Hengst an ihr vorbei und galoppierte den Hang der Düne hinunter. Erst jetzt bemerkte Karin, was >Glanzstern< beunruhigt hatte: Es war das Pferd mit dem schwarzen Fleck, das sich zwischen >Glanzstern< und seine Herde gestellt hatte, wie um ihm den Weg zu versperren. Mit flatternder Mähne stürmte der Hengst auf ihn zu. Das Hämmern der Hufe auf dem Sand hallte bis zu den Dünen hinauf. Karin schauderte. Würden die beiden Tiere miteinander kämpfen? Jedoch im letzten Augenblick schlug das Pferd mit dem schwarzen Fleck brüsk einen Haken, um dem Angriff auszuweichen. Wie ein Geschoß flog >Glanzstern< auf seinen Gegner zu. Er streckte ihm seinen Kopf entgegen. Die Kiefer schlugen ins Leere. Es war nur eine Warnung: Karin hatte den Eindruck, daß er den Kampf verschmähte. Vermutlich wartete er auf eine günstigere Gelegenheit. Aber der kurze Angriff hatte die Herde erregt. Wie wild stoben die Pferde auseinander. Plötzlich - wie auf ein geheimnisvolles Signal hin - galoppierte >Glanzstern< auf den Sumpf zu. Die Herde jagte hinter ihm her. Sein Rivale, der Hengst mit dem schwarzen Fleck, der zurückgeblieben war, schlug mehrmals mit den Hinterhufen aus, wie um seinem Ärger Ausdruck zu verleihen, dann folgte auch er der Herde. Für kurze Zeit war die Luft erfüllt vom Knistern zerbrochener Pflanzen. Dann trat wieder Stille ein. Auf dem von glitzerndem Schaum bedeckten Strand blieben nur noch die unzähligen Hufspuren sichtbar.
Am Fuße der Düne wieherte die gefesselte >Rosa< ungeduldig. Karin befreite sie rasch und schwang sich in den Sattel. Sie kämpften eine Weile miteinander, denn >Rosa< wollte der Herde folgen, Karin hingegen riet die Vernunft, sich von dieser fernzuhalten. Aber dann gelang es ihr, >Rosa< wieder in ihre Gewalt zu bekommen, und sie trabte in entgegengesetzter Richtung davon.
Erst jetzt wurde Karin ihr unglaubliches Glück bewußt. >Glanzstern< traute ihr! Sie dachte daran, wie zutraulich sein Kopf an ihrer Schulter gelegen hatte, an seinen warmen Atem. Nein, verrückt war dieses Pferd nicht! Karins Herz war von triumphierender Gewißheit erfüllt: Morgen nacht würde sie wieder zum Strand reiten, morgen nacht würde sie >Glanzstern< wieder erwarten! Ihr Geheimnis konnte sie keinem Menschen anvertrauen, nicht einmal Mireille und vor allem aber Alain nicht! Plötzlich erinnerte sie sich an die Gefahr, die dem Hengst drohte, und die Angst in ihr war so stark wie ein körperlicher Schmerz. Wie konnte sie verhindern, daß Tante Justine ihr Vorhaben ausführte? »Ich muß mir etwas einfallen lassen«, dachte Karin bestürzt.
Der Wind hatte umgeschlagen, es wurde kühl. Schon neigte sich der runde gelbe Mond dem Horizont zu. Karin krümmte den steifen, schmerzenden Rücken. Ganz plötzlich überfiel sie die Müdigkeit. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, ihrem Kopfkissen. Schlafen...!
Elftes Kapitel
Ungestraft schlägt man sich nicht eine halbe Nacht um die Ohren: Den ganzen folgenden Tag über machte Karin die bittere Erfahrung. Sie hätte im Stehen schlafen können!
Gleich nach dem Frühstück war Alain fortgeritten, ohne zu sagen, wohin.
»Was hat der nun schon wieder vor?« dachte Karin mißtrauisch. Sie vermutete, daß er trotz Tante Justines Verbot wieder hinter >Glanzstern< herjagte, und unruhig kaute sie sich die Nägel ab. Es war heiß, und Mireille schlug vor, schwimmen zu gehen. Sie fuhren mit dem Fahrrad los, versehen mit einer Flasche Limonade und Obst. Eine bläuliche Dunstglocke drückte auf den Sansouires, und über den Dünen flimmerte das Licht. Am Strand, wo ein warmer Wind wehte, trocknete der Tang. Weit draußen schaukelte das Meer.
»Es liegt ein Gewitter in der Luft«, sagte Mireille. Geblendet legte Karin die Hand über die Augen und warf einen verstohlenen Blick auf die Abdrücke der Hufe, die der Wind langsam verwischte.
»Woran denkst du?« fragte Mireille, als Karin sich nicht rührte. Karin fuhr zusammen und errötete, als ob sie wer weiß was verbrochen hätte. Die Sonnencremetube, die Mireille ihr reichte, entglitt ihrer Hand und fiel in den Sand.
»Es ist viel zu heiß, zu denken«, brummte sie und putzte nervös die sandverklebte Tube ab.
Als sie gegen Mittag heimkehrten, war Alain dabei, an seinem Moped etwas in Ordnung zu bringen. Er pfiff vor sich hin und fuchtelte, als sie bei ihm standen, mit ölverschmierten Fingern vor ihrer Nase herum.
»Na, ihr beiden, habt ihr
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