Pforten der Nacht
mir sagen, wohin du gegangen bist.«
Wo der Himmel weit ist und das Meer unendlich … Deine Worte, Geliebter. Nur deswegen bin ich hier! Hast du alles ganz vergessen?
»Du bist tatsächlich zurückgekehrt?«, fragte sie laut. »Nach allem?«
Er nickte. »Schreckliches hat sich dort ereignet. Tausende die Pest hinweggerafft. All die schwarzen Kreuze auf den Häusern. Wie eine Totenstadt! Und dann der Gang durch das rußerstarrte Judenviertel …« Er hielt inne.
»Was ist passiert an jenem Morgen?«, fragte sie. »Hast du sie noch gefunden?«
»Ich kam zu spät. Das Haus hat schon gebrannt, lichterloh. Ich kann nur hoffen, dass sie bereits tot waren, Recha, Jakub, Aaron, Lea und ihr ungeborenes Kind! Um mein Leben bin ich gerannt, Anna, und hab mich dann am Flussufer versteckt, bis es dunkel wurde. Und bin wieder weitergelaufen den nächsten Tag und all die Tage danach. Es hat lange gedauert, bis ich wieder frei atmen konnte. Und meine Ruhe, die hab ich seitdem noch immer nicht gefunden.«
»Wie gut ich dich verstehen kann! Sie sind alle tot, Esra, meine süße, kleine Flora, Regina, Hilla, Hermann und die Mädchen. Meine ganze Familie. Keinen hat die Pest verschont!«
Das Tuch an ihrem Leib begann sich zu verschieben.
»Und Johannes?« Er hielt es einfach nicht mehr aus. »Was ist mit ihm?«
»Johannes soll im Kloster gestorben sein«, erwiderte sie fest. »Ganz plötzlich, wenn man dem Gerücht trauen darf, das in der Stadt seine Runde machte, als ich selbst sterbenskrank war. Bocca hat mir davon berichtet. Jetzt ist er da, wo er immer sein wollte: bei Gott.«
Die Kleine begann zu quäken.
Er kam langsam näher, schob das Tuch beiseite. »Dein Kind?«
Das war noch nicht die Frage, auf die sie gewartet hatte! »Empfangen in jener Nacht am Fluss«, sagte sie und zog das Häubchen ab. Roter Flaum spross auf dem kleinen Kopf. »Die Haarfarbe hat sie von ihrer Großtante Regina. Und ich dachte mir, sie solle den Namen ihrer Großmutter tragen.«
Er berührte ihre Wange, so zart, dass sie es kaum ertragen konnte. »Nicht Miriam«, sagte er leise. »Nicht, bevor ich weiß, wer ich wirklich bin.«
»Ich habe sie Sophie genannt. Nach meiner Mutter, die ich niemals sehen durfte.«
Annas Stimme war nur ein Hauch. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Seine Lippen streiften ihren Mund. Ein warmes Glücksgefühl überflutete sie. Ihr ganzer Körper begann zu glühen. Es gab keinen Zweifel mehr, kein Bedenken!
Esra schien es ähnlich zu gehen. Er schloss sie so fest in die Anne, dass der Säugling empört zu weinen anfing.
»Gehst du mit mir nach Venedig?«, fragte er leise. Noomi und Noah waren dort begraben. Er wollte mit Anna in ihrer Nähe sein. »Dort können wir leben und glücklich sein, ich weiß es! Dreimal schon habe ich die Reise verschoben. Ohne dich konnte ich einfach nicht aufbrechen!«
Anna nickte. Sie würde mit ihm gehen - überallhin!
Sophie dagegen brüllte aus Leibeskräften.
»Ich glaube, ich habe soeben einen großen Fehler begangen«, sagte er.
Jetzt weiteten sich die grauen Augen erschrocken. »Vergessen, unsere Tochter zu fragen«, sagte er und lachte. Ihre Züge entspannten sich. Und jetzt kam es, wonach er sich so lange gesehnt hatte - ihr unwiderstehliches Lächeln.
Nachwort
»Das Konzeptionsjahr des Menschen
der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr
der Schwarzen Pest.«
EGON FRIEDELL
I
Winterliche Kälte legte sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts auf Europa wie ein Hinweis auf drohendes Elend. Stürme und Regenfälle vernichteten die Ernten. Damalige Zeitgenossen konnten nicht wissen, dass diese Phänomene Auswirkungen der sogenannten »Kleinen Eiszeit« waren, die ein Vorrücken der alpinen und polaren Gletscher verursacht hatte und bis ungefähr 1700 andauern würde. Die Krise des 14. Jahrhunderts, gekennzeichnet durch Hungersnöte, Kriege und Seuchen - allen voran die Pest -, die zusammen einen immensen Bevölkerungsrückgang bewirkten, fiel in eine Kälteperiode: Das Klimaoptimum des Hochmittelalters war endgültig vorüber.
Natürlich machte manche reich, was die anderen verarmen und verzweifeln ließ. Erstmals im Mittelalter zirkulierten durch den Handel größere Geldmengen innerhalb Europas; wer reich war, konnte so gut wie alles kaufen, was man zu dieser Zeit als Annehmlichkeiten kannte: Geschmeide, Pelze, teure Tuche, Gewürze - und politische Macht. In den schnell expandierenden Städten, die alle vehement danach trachteten, sich
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