Phantasie und Wirklichkeit
die ich bei dem Gedenkgottesdienst sah, war
seine zweite Frau.»
«Hm...» Morse zog ein skeptisches
Gesicht. «Wenn diese Dodo aber tatsächlich seine Frau war und seine Eltern sie
nicht ausstehen konnten, muß die Frage erlaubt sein, warum sie ihr Woche für
Woche geschrieben haben. Und warum nahm sich dann Dodo das Recht heraus, Sie
nach Bristol einzuladen? Sie hatte einen Schlüssel zum Haus, ja, sie konnte
sogar Ihnen einen zur Verfügung stellen.» Morse schüttelte bedächtig den Kopf.
«Das sieht doch ganz danach aus, als ob sie ihres Wohlwollens ziemlich sicher
war.»
«Sie glauben also, die beiden waren
tatsächlich ihre Eltern», meinte Wise entmutigt.
«Davon bin ich überzeugt.»
Wise schüttelte hilflos den Kopf. «Was,
zum Teufel, ist dann des Rätsels Lösung?»
«Das dürfte ziemlich klar sein», sagte
Morse — aber er sagte es nicht laut. Und bald darauf, nachdem die Hoffnung auf
ein neuerliches Nachschenken wohl endgültig geschwunden war, verabschiedete er
sich mit dem Versprechen, «mal ein bißchen über das Problem nachzudenken».
Am Montagmorgen stand Morse neben
seinem Kollegen vom Verkehrsdezernat im Polizeipräsidium von Kidlington und sah
zu, wie die Zulassungsnummer AW1 in den Computer eingegeben wurde. Gleich darauf
erschien auf dem Schirm die Information, daß der Wagen nach wie vor auf den
Namen A. Whitaker, 6 West View Crescent, Bournemouth, zugelassen war. Morse
notierte sich die Adresse und ging nachdenklich zurück in sein Büro im
Erdgeschoß. Von der Auskunft ließ er sich die Nummer in Bournemouth geben und
hatte wenig später Mrs. Whitaker selbst am Apparat, die ihrerseits Morse
versprach, genau das zu tun, worum er sie gebeten hatte.
Dann rief Morse im Kriegsministerium
an.
Zehn Tage später kam Philip Wise von
einer Urlaubswoche in Spanien nach Hause zurück, wo er eine längere Mitteilung
von Morse vorfand.
P.W.
Ich habe noch einige Fakten ermittelt,
aber manches von dem hier Angeführten ist möglicherweise reine Fiktion.
Bekanntlich wurde im letzten Krieg jede Menge Unterlagen vernichtet — die Chance für Leute, ihre Spuren zu verwischen, indem sie sich einfach einen
anderen Ausweis zulegten oder dergleichen, besonders in dem Chaos nach einem
blutigen Gemetzel, wenn sich in der Masse Mensch keiner mehr zurechtfand — und
in den Leichen erst recht nicht.
Nach Dünkirchen, zum Beispiel.
Bordschütze Whitaker war von dreißig
Mann der einzige, der wie durch ein Wunder überlebte, als ein deutscher Stuka
am 30. Mai 1940 die Edna (einen Leichter aus Felixstowe) versenkte. Er
wurde, nur mit einer nassen Unterhose und einer Armbanduhr bekleidet, von dem
Kanonenboot Artemis aus dem Kanal gefischt und landete mit Zehntausenden
von Soldaten aus fast allen Regimentern Großbritanniens (hier setzt meine
lebhafte Phantasie an) in Dover. Zu gegebener Zeit schickte man ihn mit dem Zug
in ein provisorisches Auffanglager, zufällig war es das Lager hier in Oxford,
auf Headington Hill.
Die Tatsache, daß er einen schweren
Schock hatte und nervlich völlig am Ende war, ist vermutlich eine hinreichende
Erklärung dafür, daß er nach nur einer Nacht im Zelt das Lager verließ und sich
per Anhalter nach Bristol durchschlug. Aber er ging nicht allein. Er nahm einen
Freund mit, einen Regimentskameraden, und sie machten sich beide absichtlich
davon, ehe man sie mit neuen Personalunterlagen hatte versehen und ihnen den
nächsten Marschbefehl hatte aushändigen können. Als nähere Angehörige hatte
dieser zweite Mann nur noch eine Mutter und eine Schwester, die beide bei einem
der ersten Luftangriffe auf Plymouth ums Leben kamen. Und gegen Zahlung einer
(zweifellos beträchtlichen) Summe, zur Verfügung gestellt von den fürsorglichen
Eltern Whitaker, erklärte sich dieser Mann bereit, die beim Kriegsministerium
aktenkundige Auskunft über sein Schicksal nach Dünkirchen — «vermißt,
wahrscheinlich gefallen» — so stehenzulassen, für den Rest des Krieges den
Namen Ambrose Whitaker anzunehmen und dessen Rolle zu spielen. Kurzum, ich
vermute, daß der Mann, der von Bodmin kam, um Dodo zu besuchen, gar nicht
Ambrose Whitaker war.
Ihre eigene Vermutung paßte sehr gut zu
etlichen Fakten, aber diese Fakten passen auch in ein ganz anderes Muster. Da
gab es zunächst diesen wöchentlichen Brief aus Bristol von Eltern, die
scheinbar so wenig von ihrer Tochter hielten und bei Ihrem Besuch sämtliche
Familienfotos versteckt hatten. Erstaunlich! Dann die
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