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Phantasie und Wirklichkeit

Phantasie und Wirklichkeit

Titel: Phantasie und Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Teil eins
     
    Dido
bemüht sich, den schweren Blick
    zu
erheben, und wieder
    Bricht er,
und unter der Brust gischt
    tiefgestoßen
die Wunde
    (Vergil, Aeneis, IV. 688-89)
     
     
    «Nun
fahren Sie schon!»
    «Ich werde dort sein, so schnell ich
kann, Sir, das bin ich immer.»
    «Was soll das nun wieder
heißen?»
    Lewis bog am Carfax nach links ab,
hinunter in die High Street, dann mit heulender Sirene über die Magdalen Bridge
und schließlich vorbei an den asiatischen Lebensmittelgeschäften und den
indischen Restaurants in der Cowley Road.
    «Ich meine», sagte Lewis nach einer
Weile, «hier haben wir wieder einen Mord am Hals, und Sie werden es
schaffen, oder? Sie schaffen es immer.»
    «Fast immer», räumte Morse ein.
    «Und ich nicht. Ich habe einen
zweitklassigen Verstand...»
    «Unterschätzen Sie sich nicht, Lewis!
Lassen Sie das die anderen für Sie tun.»
    Lewis brummte ohne jeden Humor: «Ich
bin wie eine Inlandsbriefmarke, eine Briefmarke zweiter Klasse, und das wissen
Sie genau.»
    «Aber auch Briefmarken zweiter Klasse
erreichen gewöhnlich ihr Ziel.»
    «Ja, das tun sie. Sie brauchen nur
teuflisch lange.»
    «Fahren Sie langsamer!»
    Morse hatte einen Stadtplan von Oxford
studiert und zeigte jetzt mit einem Finger nach rechts.
    «Hier ist es, Lewis. Jowett Place.
Welche Nummer haben Sie gesagt?»
    «Wahrscheinlich dort, wo die beiden
Polizeiwagen stehen, Sir.»
    Morse grinste dünn. «Behalten Sie
dieses Niveau deduktiven Verstands bei, Lewis, und wir haben den Fall gelöst,
bevor die Pubs öffnen.»
    Es war 8.50 Uhr an diesem trüben,
zeitweilig nieselnden Morgen von Montag, dem 15. Februar 1993.
    Die Oxford City Police hatte sich vor
einer Stunde oder etwas früher mit dem CID in Kidlington in Verbindung gesetzt,
nachdem sie einen 999-Anruf von einem gewissen Paul Bayley erhalten hatte, dem
Mieter des ersten Stocks in dem schmalen zweistöckigen Haus am Jowett Place 14.
Bayley, ein ehemaliger Student der Geschichte am Magdalen College in Oxford,
hatte an diesem Morgen festgestellt, daß ihm die Milch ausgegangen war, und war
nach unten gegangen, hatte an die Tür der Mieterin unter ihm, Miss Sheila Poster,
geklopft, hatte die Tür unverschlossen gefunden, und dort...
    So sagte er jedenfalls.
     
    Morse sah hinunter auf die voll
bekleidete Frau, die direkt an der Tür des Wohnzimmers im Erdgeschoß lag, den
linken Arm ausgestreckt, die gepflegten Fingernägel bemüht, so schien es, nach
der Tür zu greifen. Unter und vor ihrem Körper befand sich eine bedrückend
große Menge angetrockneten verfilzten Blutes, und obwohl man die Waffe entfernt
hatte, war es selbst für einen medizinisch so ahnungslosen Mann wie Morse möglich,
zu dem einfachen Schluß zu kommen, daß die Frau höchstwahrscheinlich durch
einen Stich durch das Herz getötet worden war. Lange dunkle Locken umrahmten
das blasse Gesicht, aus dem die großen braunen Augen unverwandt auf einen
abgetretenen limonengrünen Teppich starrten.
    «Wunderhübsches Mädchen», sagte Lewis
leise.
    Morse schaute weg von dem schrecklichen
Anblick, sah hinüber zu dem Fenster mit den zugezogenen Vorhängen und trat dann
aus dem Zimmer in den engen Flur, wo Dr. Laura Hobson, die Polizeipathologin,
sich leise mit einem der Polizeibeamten unterhielt.
    «Sie gehört Ihnen», sagte Morse, in
einem Ton, der andeutete, daß der Verzicht auf die Verantwortung für die Leiche
eine Art von Erleichterung für ihn bedeutete. Was es auch wirklich tat, denn
Morse war immer vor dem Anblick gewaltsamen Todes zurückgeschreckt.
     
    «Komischer Name, , wagte
Lewis zu bemerken, als die beiden Kriminalbeamten die enge Treppe von Nummer 14
hinaufstiegen.
    «Finden Sie?» fragte Morse, und seine
Stimme verriet kein großes Interesse an der Angelegenheit.
    Bayley saß in seinem unordentlichen
Wohnzimmer neben einem Constable; er war trotz seiner breiten Hüften und seines
strähnigen Haars ein recht gut aussehender Bursche, etwa Ende Zwanzig,
unrasiert, mit einem kleinen Ring im linken Ohr und einem Pferdeschwanz. Wie
vorherzusehen gewesen war, empfand Morse eine sofortige und heftige Abneigung
gegen ihn.
    Er sei in der Kneipe gewesen (gab
Bayley an) und habe King’s Arms in der Broad Street bis zur
Polizeistunde nicht verlassen. Danach sei er mit einem Freund in dessen Wohnung
gegangen, um weiterzufeiern, und habe dort auch geschlafen — bevor er um etwa
Viertel nach sieben zum Jowett Place zurückgekehrt sei. Den Rest habe er der
Polizei bereits mitgeteilt.

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