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Phantasie und Wirklichkeit

Phantasie und Wirklichkeit

Titel: Phantasie und Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Mitgliedskarte für den
Schallplattenklub unterschrieben hatte. Die Eltern entpuppten sich als ein
ebenso sittenstrenges wie sauertöpfisches Duo, das dem Gast gegenüber während
seines kurzen Besuchs unverändert frostig-distanziert blieb, Dodo anscheinend alles
andere als herzlich zugetan war und Ambrose so auffällig totschwieg, daß es
schon peinlich war. Merkwürdigerweise hatte Wise keine einzige liebevolle
Erinnerung an ihren begabten Sprößling in der kalten Pracht der Whitaker-Villa
entdeckt, und nicht ein einziges Familienfoto zierte den täglich abgestaubten
Kaminsims.
     
    Drei Wochen nach seiner Rückkehr von
diesem verunglückten Besuch kehrte Dodo Oxford den Rücken, ihr Kriegseinsatz
(offenbar irgend etwas streng Geheimes) erforderte den Umzug nach Cheltenham.
Es waren nur etwa 60 Kilometer, sie würde in Verbindung bleiben, sagte sie.
    Aber daraus war nichts geworden.
    «Achtundvierzig Jahre ist das jetzt
her, Inspector. Achtundvierzig! Ich war damals dreiundzwanzig, sie muß etwa in
meinem Alter gewesen sein. Ein, zwei Jahre älter vielleicht... Ich weiß es
nicht. Ich habe sie nie gefragt, wie alt sie ist. Ganz schön schlapper Typ,
wie?»
    In der Dunkelheit nickte Morse eine
stumme Bestätigung, und endlich, endlich war der Jaguar auf dem Parkplatz —
«Nur für Mieter!» — angelangt.
    Wise brachte das Kunststück fertig,
weiterzureden, während sie durch den Regen zur Eingangshalle sprinteten. «Wenn
ich Ihnen einen Tee anbieten darf... oder irgendwas anderes... Im Grunde habe
ich Ihnen ja noch gar nichts erzählt.»
     
    Als sie sich im Wohnzimmer
gegenübersaßen, reichte ihm Wise ein weißes Heftchen von sechs Seiten. Auf dem
Deckblatt stand: Gedenkgottesdienst für AMBROSE WHITAKER, M. A. (Cantab.)
F.R. A.M. 1917—1989), und Morse überflog den Inhalt: Musikstück. Choral. Bibeltext.
Musikstück. Ansprache. Gebet. Choral. Musikstück. Segen. Musikstück. Noch ein
Musikstück. Wenn er bei der Ausrichtung seiner eigenen Trauerfeier mitzureden
hätte, bemerkte Morse nur, würde er, wie Whitaker, das aus
dem Requiem von Faure wählen. Dann gab er das Heft zurück.
    «Die Sache ist nun die», fuhr Wise
fort, «daß ich im Dezember die Todesanzeige in der Times sah und
überzeugt davon war, daß es sich um den Mann handelte, den ich im Krieg gekannt
hatte. Ganz abgesehen von dem ziemlich ungewöhnlichen Vornamen und der sehr
ungewöhnlichen Schreibweise des Nachnamens, stimmte auch das andere: Geboren in
Bristol, Könner am Klavier — einfach alles! Und unwillkürlich dachte ich an
damals und überlegte, ob sie wohl noch lebte. Dodo, meine ich. Als ich
dann vor vierzehn Tagen von dem Gedenkgottesdienst in Holborn las, beschloß ich
hinzugehen, um ‘einem alten Freund die letzte Ehre zu erweisen — und
vielleicht...»
    «— ein älteres Mädchen mit
wohlgepolsterter Oberweite zu finden.»
    «Ja.»
    «Haben Sie Ihre Dodo gefunden?» fragte
Morse leise.
    Wise schüttelte den Kopf. «Es war jede
Menge Prominenz aus der Musikszene da, ich hatte ja keine Ahnung, was sich
Ambrose für einen Namen gemacht hatte. Weil ich ziemlich früh dran war, stellte
ich mich noch eine ganze Weile vor die Kirchentür und sah zu, wie die Leute
hineingingen, unter anderem auch — nicht zu verkennen! — die Frau von Ambrose,
sie fuhr in einem Rolls mit Chauffeur vor. Zulassungsnummer AW 1! Aber die
Frau, die ich suchte, sah ich nicht, und in der Kirche saß sie auch nicht, da
hätte ich sie sofort entdeckt. Sie war ziemlich klein und untersetzt, genau wie
ihre Mutter. Und noch etwas. Sie hatte eine häßliche kleine rote Narbe, nein,
eigentlich eine große rote Narbe, auf der linken Kinnseite. Von einem
Fahrradunfall aus der Kindheit, wenn ich mich recht erinnere. Die Narbe war ihr
peinlich, und sie puderte sich immer sehr stark, um sie ein bißchen abzudecken.
Trotzdem fiel es leider sehr auf. Ja, also um es kurz zu machen oder zumindest
kürzer, nach dem Gottesdienst ging ich zu Ambroses Witwe und sagte, ich hätte
ihren Mann im Krieg gekannt, es täte mir sehr leid und so weiter. Sie war
durchaus liebenswürdig, wenn auch ein bißchen gezwungen, außerdem warteten noch
mehr Leute, die mit ihr sprechen wollten. Ich mochte sie deshalb nicht weiter
aufhalten und sagte nur noch, ich hätte auch die Schwester ihres Mannes
gekannt.» Wise hielt ein, zwei Sekunden inne, dann fuhr er fort:
    «Und was soll ich Ihnen sagen,
Inspector: Die Witwe von Ambrose deutete auf eine grauhaarige Frau in

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