Phantom
her! Ich drücke mit aller Kraft auf ihren Arm, aber er ist hart wie Stahl und rührt sich nicht. Sie sind also wirklich zufrieden mit Ihren Leistungen.« Er kehrte zu seinem Platz auf dem Sofa zurück, und auch ich setzte mich wieder.
»Ich muß gestehen, das Medizinstudium hat mich derartigen Methoden gegenüber etwas skeptisch gemacht«, sagte ich lächelnd.
»Das ist schade, denn dieses Prinzip hat absolute Gültigkeit Sie können sich noch so lange einreden, daß Sie stark sind, wenn es nicht der Wahrheit entspricht, zeigt sich das in Ihrer Energie: sie sinkt. Leuchtet Ihnen das ein?«
»Ja«, gab ich zu.
»Einer der Gründe dafür, daß Jenny mich ein-, zweimal im Jahr besuchte, war ihr Bedürfnis, sich von mir wieder ins Gleichgewicht bringen zu lassen. Als ich sie das letzte Mal sah – um Thanksgiving herum –, war sie so aus dem Tritt, daß ich täglich mehrere Stunden mit ihr arbeiten mußte.«
»Hat sie Ihnen gesagt, warum es ihr so schlecht ging?«
»Es gab viele Gründe. Sie war kurz zuvor umgezogen und mochte ihre Nachbarn nicht, vor allem die von gegenüber.«
»Die Clarys«, sagte ich.
»Ja, ich glaube, so hießen sie. Jenny sagte, die Frau sei aufdringlich und der Mann ein Schürzenjäger gewesen – bis zu seinem Schlaganfall. Außerdem war Jenny ihr Horoskop-dienst über den Kopf gewachsen und zehrte an ihren Kräften.«
»Was hielten Sie von dem Geschäft, das Ihre geschiedene Frau betrieb?«
»Sie hatte eine Gabe, aber sie nutzte sie zu einseitig.«
»Würden Sie sie als Hellseherin bezeichnen?«
»Nein. Ich würde Jenny überhaupt kein Etikett anheften – dazu hatte sie zu viele Begabungen.«
Plötzlich erinnerte ich mich an das weiße Blatt Papier, das, mit einem Kristall beschwert, auf ihrem Bett gelegen hatte.
Ich fragte Travers, ob er wisse, was das zu bedeuten hatte, falls es überhaupt etwas bedeutete.
»Es bedeutet, daß sie sich konzentrierte.«
»Konzentrierte?« fragte ich verdutzt. »Worauf?«
»Wenn Jenny meditieren wollte, stellte sie einen Kristall auf ein weißes Blatt, setzte sich hin, drehte den Kristall langsam um seine Achse und beobachtete, wie das Licht das sich in den Facetten brach, über das Papier wanderte. Ich erziele die gleiche Wirkung für mich, wenn ich aufs Wasser schaue.«
»War ihr Gleichgewicht noch aus einem anderen Anlaß gestört, als sie zu Ihnen kam, Mr. Travers?«
»Nennen Sie mich Willie. Ja. Und Sie wissen sicher schon, was ich sagen werde: Es ging um diesen Ronnie Waddell, dessen Hinrichtung kurz bevorstand. Er und Jenny hatten acht Jahre lang einen regen Briefwechsel unterhalten, und sie kam nicht mit dem Gedanken zurecht, daß er getötet werden sollte.«
»Ist Ihnen bekannt, ob Waddell ihr jemals etwas anvertraute, das sie hätte in Gefahr bringen können?«
»Ja. Sie bekam etwas von ihm, das sie sehr wohl in Gefahr brachte.«
Ich griff nach meinem Glas, ohne den Blick von ihm zu lösen.
»Als sie zu Thanksgiving herkam, brachte sie alle seine Briefe mit und alles andere, was er ihr im Laufe der Zeit geschickt hatte. Sie wollte, daß ich die Sachen hierbehielt.«
»Warum?«
»Um sie aus dem Haus zu haben. Und um sie in Sicherheit zu wissen.«
»Befürchtete sie, daß jemand versuchen würde, sie ihr weg zunehmen?«
»Ich weiß nur, daß sie Angst hatte. Sie erzählte mir, daß Waddell sie in der ersten Novemberwoche angerufen und gesagt habe, er sei jetzt bereit zu sterben und wolle nicht mehr gegen seine Hinrichtung ankämpfen. Offenbar war er davon überzeugt, daß ihn nichts mehr retten konnte, und er bat sie, zu der Farm in Suffolk zu fahren und etwas abzuholen. Er wollte, daß sie es bekam, und sagte, seine Mutter werde es verstehen.«
»Und was war das?« fragte ich gespannt.
Er stand auf. »Etwas aus dem Haus der Frau, die er ermordet hatte.« Er ging ins Nebenzimmer, und als er zurückkam, stellte er einen schwarzen Aktenkoffer vor meine Füße.
»Nehmen Sie ihn mit! Übergeben Sie ihn der Polizei, oder machen Sie sonstwas damit!«
»Warum sind Sie plötzlich so kooperativ?« erkundigte ich mich. »Sie hätten ihn schon vor Wochen abliefern können.«
»Mich hat niemand danach gefragt, und ich sagte Ihnen schon: Ich verhandle nicht mit Menschen, die ich nie gesehen habe. Ich muß mir ein Bild machen können. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie mich von dem Ding erlösen. Der bloße Gedanke an den Koffer läßt meine Energie ins Bodenlose sinken.«
Die Dutzende von Briefen, die Ronnie
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