Phantom
gingen auf den Go lf von Mexiko hinaus. Willie Travers wohnte in einem zur Anlage gehörenden Bungalow, aber ich war erst um zwanzig Uhr mit ihm verabredet. Ich nahm mir ein Zimmer im Hotel, riß mir mein Winterkostüm buchstäblich vom Leib, duschte und lief zehn Minuten später in Polohemd und Shorts den Strand entlang. Nach einer Weile wurde mir bewußt, daß ich keine Ahnung hatte, wie weit ich schon gelaufen war; ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ich beobachtete die auf den Wellen schaukelnden Pelikane, die den Kopf zurücklegten, wenn sie einen Fisch hinunterschluckten, und achtete darauf, nicht auf die schwabbeligen blauen Röhrenquallen zu treten, die das Meer ausgespuckt hatte. Die meisten Leute, an denen ich vorbeikam, waren alt, doch gelegentlich übertönte eine helle Kinderstimme die Brandung. Ich hob Seeigelgehäuse auf, die das Wasser glattgeschliffen hatte, und ausgelaugte Muscheln, die an flachgelutschte Pfefferminzbonbons erinnerten, und es tat mir leid, daß ich Lucy nicht mitgenommen hatte. Hier hätte es ihr bestimmt gefallen.
Als der größte Teil des Strandes im Schatten lag, kehrte ich ins Hotel zurück, wusch mir den Sand von den Füßen, schlüpfte in ein Sommerkleid, stieg ins Auto und fuhr auf der Suche nach einem Restaurant den Estero Boulevard entlang. Schließlich landete ich im Skipper’s Galley. Ich aß Red Shapper und trank Weißwein dazu, während der Himmel allmählich zu einem rauchigen Blau verblaßte. Bald darauf trieben die Bootslaternen wie Lichtinseln durch die Dämmerung, und ich konnte das Wasser nicht mehr sehen. Als ich Bungalow 182 erreichte, der an der Anglerpier neben dem Ködershop lag, war ich so entspannt wie lange nicht.
Willie Travers öffnete die Tür, und ich hatte das Gefühl, zu einem alten Freund zu kommen.
»Der erste Programmpunkt ist körperliche Stärkung«, sagte er. »Sie haben sicher noch nicht gegessen.«
Ich widersprach ihm bedauernd.
»Dann müssen Sie eben noch einmal essen!«
»Aber ich bringe keinen Bissen mehr hinunter!«
»Ich werde Ihnen beweisen, daß Sie unrecht haben. Es gibt etwas ganz Leichtes: in Zitronenbutter gebratenen Fisch mit reichlich geschrotetem schwarzem Pfeffer und dazu selbstgebackenes Siebenkornbrot, das Sie Ihr Leben lang nicht vergessen werden. Es schmeckt jedesmal anders, weil ich den Teig immer aufs Geratewohl zusammen mische, aber das Ergebnis hat mich noch nie enttäuscht. Außerdem gibt es noch Krautsalat und mexikanisches Bier.« Während er sprach, hatte er zwei Flaschen Dos Equis geöffnet und uns eingeschenkt. Jennifer Deightons Exmann mußte an die achtzig sein. Sein Gesicht war wettergegerbt wie von der Sonne ausgedörrter Lehm, aber die leuchtendblauen Augen strahlten so lebendig wie die eines jungen Mannes, und er hatte einen schlanken, drahtigen Körper. Sei n e Haare erinnerten mich an den weißen Belag von Tennisbällen.
»Wie hat es Sie hierher verschlagen?« fragte ich, während mein Blick über die präparierten Fische an den Wänden und die rustikale Einrichtung wanderte.
»Vor ein paar Jahren entschied ich mich, in den Ruhestand zu treten. Ich bin begeisterter Angler, und so bot ich dem Pink Shell einen Handel an: Ich würde ihren Ködershop führen, wenn sie mir eines ihrer Häuschen zu einem vernünftigen Preis vermieteten.«
»Und was haben Sie gemacht, bevor Sie sich hierher zurückzogen?«
»Das gleiche wie jetzt.« Er lächelte. »Ich praktiziere Ganzheitsmedizin. Aber heutzutage suche ich mir meine Patienten aus, und ich habe keine Praxis mehr in der Stadt.«
»Wie definieren Sie Ganzheitsmedizin?«
»Als Behandlung des ganzen Menschen. Es kommt darauf an, ihn ins Gleichgewicht zu bringen.« Er musterte mich prüfend, stellte sein Bierglas auf den Tisch und kam zu dem Sessel herüber, in dem ich saß. »Würden Sie bitte mal aufstehen?«
Ich war in entgegenkommender Stimmung.
»Jetzt strecken Sie einen Arm aus, egal, welchen. So ist es gut. Ich werde Ihnen eine Frage stellen, und wenn Sie antworten, versuche ich, Ihren Arm, den Sie steif halten sollten, herunterzudrücken. Betrachten Sie sich als die Heldin in Ihrer Familie?«
»Nein.« Mein Arm gab unter dem Druck sofort nach und senkte sich wie eine Zugbrücke.
»Sie halten sich sehr wohl für die Heldin in Ihrer Familie. Das verrät mir, daß Sie ziemlich streng mit sich selbst sind. Okay. Heben Sie den Arm wieder, und ich stelle Ihnen eine andere Frage: Sind Sie zufrieden mit Ihren Leistungen?«
»Ja.«
»Sehen Sie
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