Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
Waddell aus dem Ge fängnis an Jennifer Deighton geschrieben hatte, waren mit Paketgummis gebündelt und chronologisch geordnet. Ich blätterte jedoch, nachdem ich es mir an jenem Abend auf meinem Hotelbett bequem gemacht hatte, nur einige durch, denn gemessen an den anderen Dingen, die ich fand, war ihre Bedeutung verschwindend.
    Der alte, verschrammte Aktenkoffer, dessen Messingschloß aufgebrochen war, enthielt Blöcke mit Notizen zu Prozessen, die zehn Jahre zurücklagen, Kugelschreiber und Bleistifte, eine Landkarte von Virginia, eine Blechdose mit Hals pastillen, einen Inhalator, eine Tube Erkältungssalbe und außerdem einen EpiPen, einen Drei-Milligramm-Ephedrin-Autoinjektor, den Menschen immer bei sich tragen, die lebensgefährlich allergisch gegen Bienenstiche oder bestimmte Nahrungsmittel sind. Das Etikett war mit dem Namen des Benutzers beschriftet, ferner dem Kaufdatum und der Information, daß der EpiPen fünfmal nachgefüllt werden kann. Waddell hatte den Aktenkoffer aus Robyn Naismiths Haus gestohlen, nachdem er sie an jenem schicksalhaften Morgen getötet hatte, und als er ihn später aufbrach, erkannte er, wessen Eigentum er da vor sich hatte: In jener Zeit war Joe Norring Generalstaatsanwalt von Virginia und Liebhaber der Fernsehmoderatorin.
    »Waddell hatte von Anfang an keine Chance«, sagte ich zu Wesley. »Damit will ich nicht sagen, daß er Milde verdient hätte, aber sein Tod war vom Moment seiner Verhaftung an beschlossene Sache, denn Norring wußte, daß er seinen Aktenkoffer bei Robyn gelassen und die Polizei diesen nicht gefunden hatte.« Er mußte den Abend bei seiner Geliebten verbracht haben, von dem beide nicht wußten, daß es ihr letzter sein sollte. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, was in Norring vorging, als er begriff, daß der Aktenkoffer verschwunden war.«
    Benton warf mir über den Rand seiner Brille einen Blick zu und schaute dann wieder auf die Unterlagen hinunter, die auf meinem Küchentisch ausgebreitet waren. »Vor ihrem Tod mußte er nur geheimhalten, daß er ein Verhältnis hatte, aber dann, nach dem Mord, hätte das Bekanntwerden der Affäre ihn zum Hauptverdächtigen gemacht.«
    »Da hatte er ja Glück, daß Waddell den Koffer mitgehen ließ«, meinte Marino.
    »Ich glaube nicht, daß er es so sah«, widersprach ich. »Wäre der Aktenkoffer am Tatort gefunden worden, hätte das ein Ende mit Schrecken bedeutet, aber nachdem er verschwunden war, mußte Norring mit der Ungewißheit leben.«
    Marino holte die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte un d goß uns nach. »Jemand muß etwas getan haben, um Wad d ells Stillschweigen sicherzustellen.«
    »Möglich.« Wesley griff nach dem Sahnekännchen. »Aber es kann auch sein, daß das gar nicht nötig war: Waddell mißtraute dem System der Weißen. Vielleicht fürchtete er, sich bei dem Versuch, dem Generalstaatsanwalt zu schaden, ins eigene Fleisch zu schneiden. Und als Norring dann Go uverneur war, wird Waddell kein Interesse daran gehabt haben, den Mann zu vernichten, der als einziger sein Leben retten konnte.«
    »Dennoch hat er seiner Mutter nicht aufgetragen, das Beutestück, das er bei ihr auf der Farm deponiert hatte, verschwinden zu lassen«, wandte ich ein.
    »Seine Beweggründe waren nie rational zu erklären«, antwortete Wesley.
    »Norring hatte zehn Jahre Zeit, seinen verdammten Aktenkoffer zu suchen«, sagte Marino. »Warum wartete er so lange damit?«
    »Ich vermute, daß Norring Waddell von Anfang an beobachten ließ«, meinte Benton, »und daß diese Überwachung in den letzten Monaten intensiviert wurde: Je näher die Hinrichtung rückte, um so größer wurde die Gefahr, daß Waddell doch noch den Mund aufmachte, weil die Überzeugung in ihm wuchs, nichts mehr zu verlieren zu haben. Wahrscheinlich hatte jemand das Gespräch mitgehört, als er Jennifer Deighton im November anrief und sie bat, bei seiner Mutter auf der Farm etwas abzuholen, das er aus Robyn Naismiths Haus mitgenommen hatte, worauf der Gouverneur in Panik geriet.«
    »Logisch.« Marino nickte. »Der zählte eins und eins zusammen und bekam ›Aktenkoffer‹ raus. Er muß das Ding in die Hände kriegen, aber er kann niemanden zu Jennifer Deighton schicken, solange Waddell noch am Leben ist. Denn wenn ihr etwas zustieße und ihr Freund es erführe, würde der seinen Entschluß, nicht mehr mit Nicholas Grueman zu sprechen, mit Sicherheit ändern und dem Anwalt alles erzählen.«
    »Benton«, sagte ich, »wissen Sie, weshalb Norring Ephedrin mit

Weitere Kostenlose Bücher