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Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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hatte Nicholas Grueman nie vergessen und konnte mir nicht vorstellen, daß er mich vergessen hatte.
    Nicholas Grueman meldete sich am Donnerstag, kurz nach d em ich erfahren hatte, daß Eddie Heath gestorben war.
    »Kay Scarpetta?« kam seine Stimme durch den Draht.
    »Ja.« Ich schloß die Augen. An dem Druck hinter ihnen erkannte ich, daß sich mit hoher Geschwindigkeit ein Sturmtief näherte.
    »Ich habe mir Mr. Waddells vorläufigen Autopsiebericht angesehen und nun einige Fragen an Sie.«
    Ich schwieg.
    »Ich spreche von Ronnie Joe Waddell.«
    »Womit kann ich Ihnen dienen?«
    »Fangen wir mit dem ›fast röhrenförmigen Magen‹ an. Eine recht anschauliche Beschreibung. Ist das Ihre persönliche Ausdrucksweise oder ein offizieller Terminus? Gehe ich recht in der Annahme, daß daraus zu schließen ist, daß Waddell nichts gegessen hatte?«
    »Ich kann nicht sagen, seit wann, aber sein Magen war leer und sauber.«
    »Befand er sich vielleicht im Hungerstreik?«
    »Mir ist nichts dergleichen bekannt.« Ich schaute zu der Uhr an der Wand hinauf, und das Licht stach mir schmerzhaft in die Augen. Ich hörte Grueman umblättern.
    »Es heißt hier, daß Sie mehrere Abschürfungen feststellte n – an den ›Innenseiten‹ der Oberarme«, sagte Grueman. »Das ist richtig.« »Und wo da?« »Über dem fossa cubitalis .« Pause. »Soso – über dem fossa cubitalis «, wiederholte er, und ich konnte ihn am Telefon grinsen sehen. »Nun – dann schauen wir mal. Ich habe jetzt meine Handfläche nach oben gedreht und blicke auf die Stelle, an der sich der Arm biegen läßt. Es ist doch richtig, daß dies der fossa cubitalis ist, nicht wahr? Ihre ›Innenseite des Oberarms‹ ist demnach der Teil, den ich in dieser Haltung sehe. Ist das korrekt?«
    »Exakt.«
    »Das wäre also abgeklärt Und worauf führen Sie diese Verletzungen zurück?«
    »Sie könnten von Fesseln herrühren.«
    »Fesseln? Meinen Sie die Gurte des elektrischen Stuhls?«
    »Das wäre eine Möglichkeit.«
    »Heißt das, daß Sie es nicht mit Sicherheit wissen, Dr. Scarpetta?« »Es gibt nur sehr wenige Dinge im Leben, die man mit Sicherheit weiß, Mr. Grueman.« »Es könnte demnach auch sein, daß die Abschürfungen von etwas anderem verursacht wurden, beispielsweise von menschlichen Händen?«
    »Nein, die Abschürfungen, die ich fand, deuten nicht auf menschliche Hände hin.«
    »Aber sie lassen auf den elektrischen Stuhl schließen, auf die Gurte, mit denen der Delinquent an ihn gefesselt wird?«
    »Meiner Meinung nach, ja.«
    »Ihrer Meinung nach, Dr. Scarpetta?«
    »Ich habe den elektrischen Stuhl nicht untersucht«, erwiderte ich scharf.
    Darauf folgte eine lange Pause – eine Taktik, die er schon früher im Hörsaal angewandt hatte, um die dumme Antwort eines Studenten im Raum stehen zu lassen. Ich sah ihn wieder vor mir, wie er mit den Händen auf dem Rücken und ausdruckslosem Gesicht dastand, während ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Und auch jetzt, zwanzig Jahre danach, als Chief Medical Examiner des Staates Virginia und im Besitz von so vielen Diplomen, daß ich eine Wand meines Büros damit hätte tapezieren können, fühlte ich mich erniedrigt und von ohnmächtiger Wut gepeinigt.
    Als Grueman das Gespräch mit einem schroffen »Auf Wiederhören!« beendete, kam Susan herein.
    »Eddie Heath ist gebracht worden.« Sie war bereits in Straßenkleidung. »Die Autopsie hat doch sicher bis morgen Zeit.«
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das hat sie nicht.«
    Auf dem Stahltisch sah der Junge noch kleiner aus als in seinem Klinikbett. Man hatte ihn nackt gebracht, alle Infusionsnadeln, der Katheter und die Kompressen waren noch an Ort und Stelle. Er brauchte diese Dinge nicht mehr – aber ich: für die Bestandsaufnahme. Fast eine Stunde lang notierte ich Verletzungen, die von Behandlungsmaßnahmen herrührten, während Susan Fotos machte und Telefongespräche entgegennahm.
    Die Türen des Autopsieraumes waren abgeschlossen, und ich hörte, wie draußen immer wieder Leute durch den Flur zum Parkplatz eilten: Es war Feierabend. Die Wunden an Eddies Schulter und Oberschenkel waren trocken und leuchteten dunkelrot.
    »Mein Gott!« Susan starrte sie an. »Mein Gott, was muß das für ein Mensch sein, der so was tut! Schauen Sie sich die kleinen Schnitte an den Rändern an! Es sieht aus, als habe jemand die Haut kreuz und quer eingeritzt und dann das ganze Stück rausgenommen.«
    »Das ist genau das, was ich annehme.«
    »Sie glauben,

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