Phantom
hatte sich breitschlagen lassen, und so fuhren wir am Samstag nachmittag zum Staatsgefängnis. Der Himmel war bleigrau, ein eisiger Wind beutelte die Bäume am Straßenrand. Ähnlich trist sah es in meinem Innern aus.
»Wollen Sie meine Meinung hören?« fragte Marino und fuhr, ohne meine Antwort abzuwarten, fort: »Sie lassen sich von Grueman unterbuttern.«
»Nicht im geringsten.«
»Warum erwecken Sie dann jedesmal, wenn es um ein e Hinrichtung geht, mit der er zu tun hat, genau diesen Ein d ruck?«
»Wie würden Sie denn in diesem Fall vorgehen?«
Er drückte auf den Zigarettenanzünder. »Wie Sie: Ich würde mir auch den Todestrakt und den Stuhl ansehen, alles dokumentieren und Grueman anschließend sagen, daß er ein Arschloch ist. Oder noch besser: der Presse sagen, daß er ein Arschloch ist.«
In einer der Zeitungen war Grueman zitiert worden: Waddell sei nicht ausreichend ernährt worden, und die Leiche habe Abschürfungen aufgewiesen, deren Herkunft ich nicht habe eindeutig erklären können.
»Hat er schon Verrückte verteidigt, als Sie bei ihm Jura studierten?« Der Wagen begann sich mit Zigarettenrauch zu füllen.
»Nein«, antwortete ich. »Vor einigen Jahren wurde er gebeten, die Criminal Justice Clinic von Georgetown zu leiten, und damals begann er, unentgeltlich Todeskandidaten zu vertreten.«
»Bei dem Guten muß doch eine Schraube locker sein.«
»Er ist ein erbitterter Gegner der Todesstrafe und machte bisher jeden Fall, den er übernahm, zur Sensation. Waddell ganz besonders.«
»Saint Nick, der Schutzpatron der Schwerverbrecher! Ist er nicht ein Schatz?« spottete Marino. »Warum schicken Sie ihm keine Farbfotos von Eddie Heath und fragen ihn, ob er mit den Eltern reden will? Mal sehen, wie er sich zu dem Schwein stellt, das so etwas anstellt.«
»Gruemans Meinung wird nichts ändern.«
»Hat er Kinder? Eine Frau? Irgend jemanden, an dem ihm was liegt?«
»Das spielt keine Rolle. Aber wenn wir schon dabei sind – gibt’s was Neues im Fall Heath?«
»Nein. Die in Henrico kommen auch nicht weiter. Wir habe n nur die Kleidung und das Projektil. Aber vielleicht bringt un s das Material weiter, das Sie ins Labor geschickt haben.«
»Was ist mit VICAP?« fragte ich, womit ich mich auf das Violent Criminal Apprehension Program bezog, bei dem Marino und der FBI-Profiler Benton Wesley auf regionaler Ebene zusammenarbeiteten.
»Trent ist dabei, die Formulare auszufüllen, und wird sie in den nächsten Tagen abschicken«, erwiderte Marino. »Und Benton habe ich gestern abend über den Fall informiert.«
»War es dem Jungen zuzutrauen, zu einem Fremden ins Auto zu steigen?«
»Der Aussage seiner Eltern nach, nein. Entweder ist er überrumpelt worden, oder der Täter hat sich sein Vertrauen erschlichen und ihn so zum Mitfahren bewegen können.«
»Hatte Eddie Ge schwister?«
»Einen Bruder und eine Schwester, beide mehr als zehn Jahre älter. Ich glaube, Eddie war ein Versehen.«
Die Strafanstalt kam in Sicht. Nach Jahren der Vernachlässigung war der Fassadenanstrich zu einem schmuddeligen Rosa verblaßt. Die Fenster waren mit dicken Plastikfolien vernagelt. Wir nahmen die Ausfahrt Belvedere und bogen dann links in die Spring Street ein, einen schlaglöcherzerfressenen Asphaltstreifen, der zwei Welten miteinander verband. Er endete ein Stück hinter dem Gefängnis bei Gambles Hill, wo sich die Hauptniederlassung der Ethyl Corporation inmitten einer makellosen Rasenfläche erhob wie ein weißes Märchenschloß am Rande eines Schuttabladeplatzes. Als wir auf dem Parkplatz aus dem Wagen stiegen, stach uns der Eisregen wie Nadeln ins Gesicht. Ich folgte Marino, vorbei an einem Müllcontainer und einer Laderampe, auf der mehrere Katzen hockten, die uns mißtrauisch musterten. Durch den Haupteingang, eine einflügelige Glastür, traten wir in einen kahlen Vorraum. Die Luft war kalt und schal. Durch ein kleines Fenster konnte man in die Anmeldung schauen. Di e stämmige Frau in Wärteruniform, die an einem Schreibtisc h gesessen hatte, öffnete es mit sichtlichem Widerwillen.
»Sie wünschen?«
Marino zeigte ihr seine Marke und erklärte lakonisch, wir seien mit Direktor Donahue verabredet, worauf sie uns zu warten bat und das Fenster wieder schloß.
»Das ist Helen die Hunnin«, erklärte mir Marino. »Ich bin schon unzählige Male hiergewesen, aber sie tut jedesmal wieder so, als hätte sie mich noch nie gesehen. Ich bin eben nicht ihr Typ. Sie werden sie gleich näher
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