Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantom

Phantom

Titel: Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
Eddie hatte sich offenbar nicht gegen seinen Angreifer gewehrt und auch nicht versucht, sich seiner Fesseln zu entledigen oder sie wenigstens zu lockern. Ich wandte meine Aufmerksamkeit den Mundrändern, der Zunge und dem Rachen zu: Nichts deutete darauf hin, daß er geknebelt gewesen war. Ich stellte mir vor, wie er dort in der bitteren Kälte gesessen hatte, nackt an den Müllcontainer gelehnt, die Kleider neben sich.
    »Eddie hat sich nicht gegen seine Fesseln gewehrt«, teilte ich Susan meine Erkenntnis mit.
    Sie sah mich nachdenklich an und sagte dann: »Meinen Sie, der Täter hat ihn erst in den Kopf geschossen und dann gefesselt?«
    »Ja, das meine ich.«
    »Aber das ergibt keinen Sinn.«
    »Ich sehe auch keinen, aber wir haben es hier nicht mit einem normalen Fall zu tun. Wer weiß, was in einem kranken Hirn vorgeht.« Der dumpfe Druck hinter meinen Augen wurde noch stärker.
    Susan hob das aufgerollte Kabel aus der Wandhalterung und schloß die Stryker-Säge an. Sie klinkte neue Klingen in die Skalpelle und überprüfte die Messer auf dem Instrumenten-wagen. Dann verschwand sie im Röntgenraum und kam mit Eddies Aufnahmen zurück, die sie an die Lichtkästen klipste. Sie hastete hin und her, und dann tat sie etwas, das sie noch nie getan hatte: Sie prallte gegen den Instrumentenwagen und stieß zwei Behälter mit Formalin zu Boden, wo sie zerschellten. Sie sprang zurück, versuchte mit wedelnden Armen die Dämpfe zu verscheuchen und hätte beinahe den Halt verloren.
    »Haben Sie was ins Gesicht bekommen?« Ich packte sie am Arm und zog sie zum Umkleideraum.
    »Ich glaube, nicht. Nein. O Gott! Aber an den Beinen. Und am Arm, fürchte ich, auch.«
    »Sind Sie sicher, daß nichts in die Augen oder den Mund gekommen ist?« Ich half ihr aus dem grünen Kittel.
    »Ja, da bin ich ganz sicher.«
    Ich drehte das Wasser in der Dusche auf. Dann ließ ich sie allein, staffierte mich mit Maske, Schutzbrille und dicken Gummihandschuhen aus und saugte die Chemikalie mit Formalinkissen auf, die wir für solche Notfälle von den Behörden gestellt bekommen. Dann fegte ich die Scherben zusammen und verschloß alles in dickwandigen Plastikbeuteln. Anschließend spritzte ich den Boden mit dem Schlauch ab, wusch mich und zog einen frischen Kittel an.
    Nach einer Weile kam Susan mit hochrotem Kopf und angstvollem Blick aus der Dusche. »Es tut mir leid, Dr. Scarpetta«, sagte sie zerknirscht.
    »Meine einzige Sorge ist, ob Sie in Ordnung sind.«
    »Ich fühle mich schwach und ein bißchen schwindlig. Ich habe immer noch die Dämpfe in der Nase.«
    »Ich kann hier auch allein fertigmachen. Gehen Sie nach Hause!«
    »Ich ruhe mich vorher lieber noch etwas aus.«
    Ich griff in die Tasche und zog einen Schlüssel heraus. »Hier, Sie können sich in meinem Büro oben aufs Sofa legen. Und sagen Sie mir über die Sprechanlage sofort Bescheid, falls Sie sich unwohl fühlen!«
    Eine Stunde später kam sie wieder herunter, den Wintermantel bis oben zugeknöpft.
    »Wie geht’s?« fragte ich.
    »Ein bißchen zittrig, aber sonst okay.«
    Sie schaute mir eine Weile schweigend bei der Arbeit zu und sagte schließlich: »Ich habe mir was überlegt, während ich da oben lag: Ich sollte bei diesem Fall nicht als Zeugin angegeben werden.«
    Ich blickte überrascht auf. Es war üblich, daß jeder, der einer Autopsie beiwohnte, im offiziellen Bericht als Zeuge aufgeführt wurde. Susans Anliegen war nicht von Wichtigkeit, aber seltsam.
    »Bei der eigentlichen Autopsie war ich doch gar nicht dabei«, begründete sie ihren Wunsch. »Ich habe nur bei der äußerlichen Untersuchung assistiert. Es wird einen Riesenprozeß geben, falls sie den Täter jemals erwischen, und ich fände es besser, wenn ich in den Unterlagen nicht auftauche.«
    Ich nickte. »In Ordnung. Kein Problem.«
    Sie legte den Schlüssel auf einen Tisch, verabschiedete sich und ging.
    Marino war zu Hause, als ich ihn eine Stunde später übers Autotelefon anrief.
    »Kennen Sie den Direktor der Strafanstalt Spring Street?« fragte ich ihn.
    »Frank Donahue? Ja. Wo sind Sie denn?«
    »In meinem Wagen.«
    »Dann kann ja die Hälfte aller Fernfahrer in Virginia am Funktelefon mithören.«
    »Da werden sie nicht viel zu hören bekommen. Ich möchte Sie bitten, etwas für mich zu arrangieren.«
    »Was haben Sie vor?«
    »Ich muß in der Strafanstalt einiges nachsehen.«
    »Beim Nachsehen in einer Strafanstalt sollten Sie sich aber vorsehen!«
    »Ein Grund, daß Sie mich begleiten.«
    Marino

Weitere Kostenlose Bücher