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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hartung
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der Naturordnung.
    Die Kritik am Materialismus in dieser Zeit richtet sich denn auch nicht gegen dessen praktische Konsequenzen, sondern setzt vielmehr bei seinen theoretischen Grundlagen an. Sie artikuliert sich zum einen in der These, dass die mechanistische Theorie eine beschreibende Naturerklärung aufbietet, der es nicht gelingt, das grenzenlose Universum zu erfassen. Wer Unendlichkeit denken will, der muss auf ein bewegliches, nicht auf Kausalität reduziertes Denken zurückgreifen, so formuliert Denis Diderot (1713–1784) den zentralen Punkt seiner Kritik. Auch wird das Kausalitätsdenken der Komplexität der Naturverhältnisse nicht gerecht, da es keine synthetische Perspektive auf das Naturganze begründet. Doch nur derjenige, der das Ganze im Blick hat, kann das Einzelne bestimmen und klassifizieren, wie der Comte de Buffon (1707–1788) in seiner
Histoire naturelle, générale et particulière
(1749ff.) und Carl von Linné (1707–1778) in seinem
Systema naturae
(1735) darlegen.
    Ganz ähnlich verläuft die Argumentation in der deutschen Schulphilosophie bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Christian Wolff (1679–1754), denen zufolge die materialistische Lehrmeinung dem dynamischen Prinzip der Natur nicht gerecht wird. Wer Bewegung denken und nicht nur [40] Bewegungsabläufe beschreiben will, der muss die Vorstellung einer Bewegungsrichtung haben. Mit dieser Überlegung findet eine Rehabilitierung des aristotelischen Entelechie-Konzepts statt, und es ist dementsprechend kein Zufall, dass Wolff den Begriff der Teleologie prägt. Das sind die theoretischen Voraussetzungen, auf deren Grundlage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Philosophie des Organischen entsteht. Die Pointe dieser philosophischen Denkrichtung liegt darin, dass sie den Versuch unternimmt, ein monistisches Entwicklungsmodell dynamisch zu fassen, um gleichermaßen der cartesischen Dualität zweier Substanzen und der strikten Herrschaft des mechanistischen Kausalitätsdenkens zu entgehen.
    Die Philosophie des Organischen ist seit ihren Anfängen mit dem Namen Johann Gottfried Herder (1744–1803) verknüpft. Herder hat in seinen
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
(1784/91) das Bild von der unermesslichen Kette, die vom Schöpfer bis zum Keim eines Sandkorns reicht, geprägt. In Herders Naturbetrachtung wird das Ganze in der Vielfalt seiner Teile, die miteinander verbunden sind und von einem gemeinsamen Strom der organischen Kräfte angetrieben werden, dargestellt. Zudem entdeckt er in allem ein Ordnungsprinzip, das es erlaubt, auf den verschiedenen Ebenen der Darstellung die Vielfalt der Erscheinungen als zu einer Mitte, dem jeweiligen Höchstmaß an Vollkommenheit, strebend, zu erfassen. So wie die Erde der mittlere Planet und die organische Welt die Mitte zwischen materieller und geistiger Sphäre zu sein scheint, so scheint auch »der Mensch […] unter den Erdthieren das feine Mittelgeschöpf zu sein, in dem sich, soviel es die Einzelheit seiner Bestimmung zuließ, die meisten und feinsten Strahlen ihm ähnlicher Gestalten sammeln« (Herder 1869, 50). Aber diese Position muss der Mensch als Lernwesen erst schrittweise erringen und sich aneignen. Deshalb basiert eine Betrachtung, die nachvollziehen will, wie der Mensch sich seinen Herrschaftsplatz inmitten der Welt [41] erobert hat, auch zu einem großen Teil auf zoologischen und geografischen Einsichten.
    Herder schickt seiner deskriptiven Betrachtung der Natur des Menschen zwei Grundsätze voraus: 1. Die Naturordnung ist pyramidenförmig aufgebaut. Im unteren Bereich gibt es eine Vielzahl von Geschöpfen, deren Zahl nach oben hin immer weiter abnimmt, wohingegen der Grad der Vollkommenheit und Ähnlichkeit mit dem Menschen stetig zunimmt; der Mensch bildet die Spitze dieser Pyramide. 2. Trotz der anscheinend unendlichen Varietät der Formen alles Lebendigen müssen wir voraussetzen, dass die Natur alles Lebendige nach einem »Hauptplasma der Organisation« (Herder 1869, 49) gebildet hat. Diese Vorstellung vom Analogon der Organisation ist das zentrale Moment der herderschen Theorie. Sie erlaubt Vielfalt zu denken, ohne das Prinzip der Einheit der Natur aufzugeben. Was unterschieden ist, ist zweckmäßig unterschieden im Hinblick auf die ihm zugedachte Organisationsform und zugleich wesentlich identisch, weil es aus einem Ursprung herrührt und seine Wirkkraft einem die ganze Natur durchfließenden Impuls verdankt, den Herder als »Cirkel

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