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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hartung
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zwischen der Sichtbarkeit des Zwischenkieferknochens (beim Tier) und der Geschlossenheit des Oberkiefers (beim Mensch) sich herausbildet. Damit erst wird die gemeinsame Entwicklungsgeschichte von Mensch und Tier unkenntlich.
    Goethe sieht in diesem Befund einen nachdrücklichen Beweis seiner Hypothese von der Einheit der Natur, die allem Wandel vorausliegt. Seine Einheitshypothese mündet allerdings nicht in einen kruden Monismus, sondern befördert seine pantheistische Weltansicht, die Gottes Wirken in jedem Teil der Natur voraussetzt: »Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße […] Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen«, heißt es in einem seiner naturphilosophischen Gedichte. (Goethe 1999, 357) Die Gleichung Natur = Gott ist für Goethe keine bloß metaphorische Wendung. Sie ermöglicht es, hinter allen Naturgattungen einen göttlichen Plan zu vermuten. So kann Goethe scheinbar paradoxerweise die Ergebnisse der Naturforschung seiner Zeit, vor allem der Physiologie und vergleichenden Anatomie, vorbehaltlos rezipieren, ohne dadurch den Menschen zu einem bloßen Naturprodukt zu degradieren. Er zieht die Grenze zwischen seiner Naturbetrachtung und der Naturforschung an dem Punkt, wo er die Hypothese eines monistischen [47] Entwicklungsmodells konsequent bestreitet. Die Freilegung einer gemeinsamen Vorgeschichte von Mensch und Tier beweist seiner Ansicht ja nur die allgemeine Wirkung bestimmter organischer Naturkräfte, aber keineswegs die Abstammung des Menschen von einer tierischen Vorform.
    Goethes Stellung zur Entwicklungslehre seiner Zeit verdichtet sich in einer Anekdote aus dem August 1830, die sein Biograf Eckermann kolportiert hat. Von Goethe angesprochen auf die »große Begebenheit«, über die gerade Nachrichten aus Paris in Weimar eingetroffen seien, glaubt Eckermann, dass jener ebenfalls über die Julirevolution des Jahres spricht. Goethe hingegen verweist auf einen Streit zwischen den Naturforschern Georges Baron de Cuvier (1769–1832) und Étienne Geoffroy de Saint-Hilaire (1772–1844) an der Pariser Akademie, der zur selben Zeit öffentlich geworden ist. Diese Sache ist für ihn von höchster Bedeutung, denn sie wird seiner Ansicht nach in Frankreich durch den Einfluss von Geoffroy der synthetischen Behandlungsweise der Natur zum Sieg verhelfen und den Blick in »die geheimnisvolle Werkstatt Gottes« eröffnen. »Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Teilen uns zu schaffen machen, und wir nicht das Atmen des Geistes empfinden, der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktioniert.« (Eckermann 1994, 765) Wenn auch gegen die wissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit geschrieben, steht Goethes Forderung einer synthetischen Naturbetrachtung durchaus nicht allein. Die Tradition naturphilosophischer Spekulation führt von Friedrich Wilhelm Joseph Schellings
Erstem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie
(1799) bis zu Hermann Lotzes
Mikrokosmos
(1856).
[48] Charles Darwin und der Darwinismus
    Was Goethe geahnt hat, aber nicht verhindern konnte, ist der Beginn einer neuen Zeit der Naturforschung, die der Bändigung ihrer Ausschweifung im Detail kaum einen Gedanken mehr widmet. Ihr Wegbereiter Charles Darwin (1809–1882) hat als studierter Theologe immerhin noch gewusst, welche Mauern er einreißt. Wir müssen uns Darwin als einen behutsamen und zögerlichen Gelehrten vorstellen. Ganz im Gegensatz zu dem Bild, das bereits seine Zeitgenossen, aber vor allem spätere Generationen sich von ihm gemacht haben, war Darwin keineswegs bestrebt, eine wissenschaftsgeschichtliche und epistemologische Revolution auszurufen. Vielmehr war es sein Anliegen, die umfangreichen Erfahrungsdaten seiner Forschungsreisen und Versuchsreihen als Botaniker mit den überlieferten Ansichten von der Naturgeschichte in Einklang zu bringen und Letztere notfalls zu korrigieren.
    Das Buch
The Origin of Species by means of Natural Selection or the Preservation of favoured Races in the Struggle for Life
(1859), mit dem schlagartig sein Ruhm begründet wurde, enthält nicht eine Theorie, sondern ein Ensemble von Theorieansätzen, die sich erst zu einem »long argument« entfalten sollen. Die durchaus langatmige Beschreibung der Variationen innerhalb der Tier- und Pflanzenwelt durch Eingriffe des Menschen (under domestication) oder nach Maßgabe natürlicher Mechanismen (under

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