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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hartung
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Eigengesetzlichkeit herausgearbeitet wird sowie gerechtfertigt werden kann. So führt der Substanzendualismus Descartes’ tatsächlich zum Ende des überlieferten anthropologischen Denkens. Die möglich gewordene Vernachlässigung der komplexen Einheit beider Aspekte menschlichen Lebens bietet einerseits den unabweislichen Vorteil, die physische Seite des Lebens ohne Rücksicht auf metaphysische Überlegungen untersuchen zu können. Denn werden die mechanischen Gesetze fokussiert, die in der äußeren Natur wie im menschlichen Körper herrschen, wird die physische Seite des Lebens aller Rätsel beraubt. Sie funktioniert wie ein Automat, dessen mechanische Vorrichtungen wie das Laufwerk einer Uhr offen gelegt werden können. Auf der anderen Seite jedoch wird das Einheitsprinzip menschlichen Denkens und Handelns zunehmend rätselhaft. Was »Selbstbewusstsein« und »Seele« oder im moralisch-rechtlichen Sinne »Person« meint, das verschwindet im Nebel, der sich hinter dem klaren Horizont der Naturforschung abzeichnet. Dieser Bereich des Menschseins erscheint für den Naturforscher wie ein »Gespenst in einer Maschine« (Ryle 1949).
    Seit dem späten 17. Jahrhundert wird die cartesische Physik zur bestimmenden Lehrmeinung in den Schulphilosophien des Kontinents – mit der Folge, dass auf der Grundlage einer mechanischen Naturphilosophie das anthropologische Denken in ein enges systematisches Gerüst eingespannt wurde. Die mechanistische Reduktion des Menschenbilds war zugleich Grundlage leistungsfähiger Konzepte zur Psychologie und politischen Philosophie wie sie von Pierre Gassendi, Thomas Hobbes, Spinoza und John Locke entwickelt wurden.
    Seine radikalste Ausprägung hat dieses Theoriekonzept in [38] Julien Offray de La Mettries
L’Homme Machine
(1748) und Baron d’Holbachs
Système de la Nature
(1770) gefunden. Der Name für diese Denkrichtung lautet Materialismus. Im Gegensatz zu Descartes jedoch wird von den Materialisten des 18. Jahrhunderts statt der Mathematik die Physiologie zur Leitdisziplin erhoben. Auf diese Weise gehen sie auf den Grundsatz des Protagoras zurück und behaupten, dass die Physiologie des Menschen den Schlüssel der Naturerkenntnis enthält.
    Wieder einmal führt die Frage nach dem Menschen dazu, ihn zum Maß der Dinge zu erheben. Was den Menschen vor allen anderen Naturgegenständen auszeichnet, ist für die Materialisten lediglich die gesteigerte Komplexität seiner körperlichen Struktur. Die Komplexität seines Bauplans ist also derjenigen anderer Automaten überlegen, verhindert aber nicht die Vergleichsmöglichkeit. »Der menschliche Körper ist nichts anderes als eine ungeheure und mit höchster Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit gebaute Uhr.« (La Mettrie 1921, 130). Alles was bislang zu den Seelenvermögen gerechnet wurde, erscheint nun als bestimmte Wirkung eines komplexen Mechanismus. So wird zum Beispiel behauptet, dass auch die den Menschen auszeichnende Sprachfähigkeit in der Mechanik des menschlichen Körpers angelegt ist – die Physiologie des Menschen lüftet auch das Rätsel vom Sprachursprung.
    Um eine Eindeutigkeit der Problemlösung herbeizuführen, schaffen die Materialisten im Kreis um Paul-Henri Thiry d’Holbach zuallererst das Mysterium des cartesischen Substanzendualismus aus der Welt und ersetzen es durch ein monistisches Prinzip, die Materie. Und sie kombinieren dieses Prinzip mit dem Kausalitätsmuster zu einem monistischen Entwicklungsmodell, in dem konsequent gedacht eine Ursache nur eine ihr gleiche Wirkung hervorbringen kann. Für den »Geist« des Menschen bedeutet dies, dass er lediglich als Resultat einer hochkomplexen Mechanik des menschlichen Naturkörpers, nicht aber als eine eigene [39] Substanz angesehen wird. Diese theoretischen Überlegungen sind bei d’Holbach (1723–1789) und La Mettrie (1709–1751) mit der Forderung nach einer Befreiung des Menschen von allen Illusionen einer metaphysischen Lehrmeinung verknüpft. Der Mensch ist ihrer Auffassung nach Teil einer Naturordnung, deren Mechanismus beschreibbar und damit auch beherrschbar ist. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, dass die Komplexität materialer Strukturen vollständig aufgeschlüsselt wird und die Gesetzmäßigkeiten des Lebens allgemein bestimmt werden, um dem Menschen seine Position in der Natur freizulegen. Der aufklärerische Optimismus des 18. Jahrhunderts setzt auf die Befreiung des Menschen im Sinne einer theoretischen Durchdringung und praktischen Beherrschbarkeit

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