Philosophische Anthropologie
Entwicklungsgeschichte in die anthropologische Problemstellung gekennzeichnet. Der Blick ins 18. Jahrhundert hat gezeigt, dass dies keineswegs überraschend geschieht. Es gibt vielmehr eine lange Vorbereitungsgeschichte der modernen Entwicklungstheorie, die an der Schnittstelle von Schöpfungs- und Naturgeschichte entlangläuft. Der Mediziner Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) hat in seiner Abhandlung
Über die natürlichen Unterschiede der Menschheit
(1775) ein Entwicklungskonzept von Gattungen und Varietäten entworfen, in dem die Anatomie zum Leitfaden der Naturforschung erhoben wird. Die vergleichende Anatomie bildet auch bei Herder, der in der gesamten Naturordnung ein »Analogon der Organisation« vermutet, die Grundlage der Theoriebildung. Einstimmigkeit herrscht unter den Gelehrten in dem Punkt, dass die Schöpfungsgeschichte als Paradigma von Naturgeschichte kritisiert werden muss, weil sie kein zureichendes Bild von Entwicklung und Vielfalt in der Natur liefert. Der Streit zwischen den Forschern verläuft mit Blick auf die Anthropologie entlang der Fragestellung, ob die in der vergleichenden Anatomie gewonnenen Einsichten konstitutiv für eine Bestimmung des Menschen sind, also tatsächlich ein neues Paradigma der Naturbetrachtung bieten.
Kant lehnt es vehement ab, aus der bloßen Vergleichbarkeit des Menschen mit den höheren Tieren eine Bestimmung des Menschen abzuleiten, denn zwischen diesem Leben (Natur, Naturwesen) und »einem anderen Leben« (Vernunft, Vernunftwesen), das der Bestimmung des Menschen entspricht, besteht »nicht die mindeste Ähnlichkeit« (Kant 1977a, 791). Der kantische Dualismus, hier ausgedrückt in den zwei [45] Formen des Lebens, markiert noch einmal die cartesische Problemstellung. Die Leistungsfähigkeit der kantischen Philosophie muss nicht eigens betont werden, doch schon den Zeitgenossen war klar, dass Kant, trotz gegenteiliger Beteuerungen, keine Bestimmung des ganzen Menschen vornimmt. Zusammen mit der Einsicht, dass seine Vernunftkritik zwar eine Form der Wirklichkeitserkenntnis destruiert, dann aber keinen neuen Gesamtentwurf anbietet, hat dies vor allem dazu geführt, dass die Grundproblematik anthropologischen Denkens, die Frage nach einer Bestimmbarkeit des Menschen, nur deutlicher und radikaler hervortritt.
Bei der Suche nach einer neuen Synthesis der Naturbetrachtung und einem Menschenbild, das die Ergebnisse der Naturforschung zu integrieren hilft, macht zweifelsohne Herder den ersten wesentlichen Schritt. Wiewohl auch er von zwei Ordnungsprinzipien und Lebensbegriffen spricht, betont er doch zugleich ihre dynamische Korrelation. Einerseits bildet die Natur eine »Kette der Erdorganisation«, deren letztes und höchstes Glied der Mensch ist; andererseits gibt es eine »höhere Ordnung von Geschöpfen«, deren niedrigstes Glied er ist. So ist der Mensch, vom Tier abstammend und den Engeln wesensgleich, in den Worten Herders ein Mittelgeschöpf. Der Kern der herderschen Anthropologie steckt in der Annahme, dass nur im Menschen die Ordnungen der Natur und des Himmels zusammenfallen. Der Mensch ist als Teil dieses Lebens bereits Teil eines anderen Lebens, »und so ist er wahrscheinlich der Mittelring zwischen zwei ineinandergreifenden Systemen der Schöpfung« (Herder 1869, 143). Der Dualismus der zwei Formen von Leben wird somit in eine synthetische Perspektive gerückt, denn in der Naturentwicklung entfaltet sich ein Prinzip, das ebenso im Menschen und durch den Menschen hindurch verläuft und nur in menschlicher Perspektive in eine dualistische Position auseinanderfällt. Die Rede ist von den organischen Wirkkräften der Natur oder, wie es wenig später in Anlehnung an Herder heißen wird, der »Lebenskraft«.
[46] Einer der prominentesten Gegner eines dualistischen Naturverständnisses und Menschenbilds ist Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Goethe hat wiederholt prophezeit, dass die dualistische Konzeption den Befunden der vergleichenden Anatomie nicht standhalten wird. Aber Goethe hat nicht nur Vermutungen angestellt, seine anatomischen Studien haben ihn tatsächlich zu einer verblüffenden Entdeckung geführt. Der Nachweis des Zwischenkieferknochens (os intermaxillare) bestätigt seine Annahme von der durchgängigen Analogie von Tier- und Menschenkörper. Goethe fand heraus, dass sich die entwicklungsgeschichtliche Einheit von Tier und Mensch noch im embryonalen Zustand des Menschen zeigt und erst nach der Geburt die uns bekannte Differenz
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