Philosophische Anthropologie
sich der Mensch wie ein »Nichts«; im Hinblick auf sich selbst als denkendes Wesen erlebt er sich jedoch als ein »Alles«. Diese Paradoxie sprengt die Formen menschlichen Wissens und öffnet den Horizont für den Glauben.
Von Pascal stammt das geflügelte Wort vom Menschen als »denkendem Schilfrohr« – »l’homme n’est qu’un roseau, le [35] plus faible de la nature, mais c’est un roseau pensant« (Pascal 1977, 161). Dieses Bild verdeutlicht noch einmal, dass seiner Ansicht nach für den Menschen im Denken keine Stabilität zu gewinnen ist. Dennoch hängt alle menschliche Würde an dieser Fähigkeit. Damit rechtfertigt sich das anthropologische Denken bei Pascal gerade nicht in der Beherrschung seines Gegenstandes, sondern im skeptischen Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Denkens und in seiner Öffnung für den Glauben.
Der Mensch in Natur und Geschichte (Aufklärung)
In der Forschungsliteratur ist seit Wilhelm Diltheys Studien von einer anthropologischen Wende in der frühen Neuzeit die Rede. Damit ist gemeint, dass das Projekt einer Selbstbestimmung und Selbstbehauptung des Menschen in den Mittelpunkt des Interesses rückt. In den philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Debatten kommt die Sorge um den »ganzen und vollkommenen Menschen« zum Ausdruck. Gleichzeitig aber entsteht eine wissenschaftliche Bewegung, die von diesen Ganzheitsentwürfen Abstand nimmt und sich in methodischer Selbstbeschränkung übt. Paradigmatisch hat René Descartes (1596–1650) in seinem
Discours de la méthode
(1637) dem neuen Konzept von Wissenschaft ein methodologisches Gerüst gegeben, das im wissenschaftlichen Cartesianismus des 17. und 18. Jahrhunderts wirkmächtig wurde. Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht die folgenschwere Trennung der zwei Substanzen Geist und Körper.
Descartes selbst hat zu Beginn seiner
Meditationes de prima philosophia
(1641) in einem methodischen Kniff die Trennung von immateriellen Gedankendingen (res cogitans) und materiellen Gegenständen der Außenwelt (res extensa) formuliert, um auf dem Weg einer skeptischen Bezweiflung der Realität unserer Wahrnehmungswelt an einen Punkt zu [36] gelangen, an dem dieser Zweifel stillsteht und ein erkenntnistheoretisch belastbarer Zugang zur gegenständlichen Welt rekonstruierbar ist. Hat der Mensch an der Realität von allem, was ihn umgibt, gezweifelt, einschließlich seiner körperlichen Existenz, dann steht er an dem Punkt, wo nur eines bleibt: Er kann zumindest nicht sinnvoll bezweifeln, dass er es ist, der zweifelt. Der Denkakt des Zweifelns ist demnach ein fundamentaler Ausweis des menschlichen Selbst. Dieses Selbst ist mit Sinnen und dem Bedürfnis ausgestattet, sich in der es umgebenden Welt zu orientieren. Nur die Annahme, dass dieses Selbst in einem unentrinnbaren illusionären Zusammenhang steht, also keine Unterscheidung von Wachsein und Träumen möglich ist, und die damit korrespondierende Hypothese, dass die Ursache allen Geschehens, Gott, ein Interesse daran haben könnte, den Menschen zu täuschen, würden den methodischen Zweifel zu einer existenzialen Kategorie machen. Weil Descartes aber beiden Annahmen mit Vernunftgründen ihre Plausibilität nimmt, ist das Resultat seiner Untersuchung eine Rekonstruktion von Weltgewissheit, die um den Preis einer Trennung von Geist und Körperwelt erkauft ist.
Zwar nimmt diese Trennung bei Descartes den Charakter eines Substanzendualismus ein, zugleich aber hebt er eine besondere Relation zwischen beiden Substanzen hervor. Geist und Körperwelt werden in ihrer Trennung für den Menschen dargestellt, darüber hinaus jedoch als Bestandteile einer essenziellen Einheit aufgefasst. Hier zeigt sich, dass dem anthropologischen Denken Descartes’ eine ontologische Prämisse zugrunde liegt. Dies wird insbesondere im
Traité de l’Homme
(1633) augenfällig, wo Descartes das reduktionistische Verfahren seiner methodischen Schriften vermeidet und den Menschen als eine komplexe Einheit von psychischen und physischen Aspekten behandelt. In der Geschichte des anthropologischen Denkens allerdings ist Descartes als derjenige Denker eingegangen, der die Frage nach dem ganzen Menschen verabschiedet hat.
[37] Davon legt vor allem die Wirkungsgeschichte des Cartesianismus Zeugnis ab. Im Cartesianismus führt die methodische Trennung zweier Substanzen dazu, dass der Bereich der körperlichen und gegenständlichen Seite gesondert untersucht und auf diesem Weg zunehmend seine
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