Philosophische Anthropologie
organischer Kräfte« bezeichnet. So gesehen offenbart die ganze Natur, mit ihren unterschiedenen Lebenswelten, eine zweckmäßige Organisation: »Kein Punkt der Schöpfung ist ohne Genuß, ohne Organ, ohne Bewohner; jedes Geschöpf hat also seine eigene, eine neue Welt.« (Herder 1869, 62)
Alles Naturgeschehen wird von Herder in einen teleologischen Rahmen eingebaut. Der Mensch ist aufgerufen, die ihm möglichen Fähigkeiten zu erwerben, Sprach- und Vernunftgebrauch zu erlernen und sich auf diese Weise stetig zu vervollkommnen. Seine Mängelausstattung, das heißt das Fehlen angeborener Befähigungen, seine existenzielle Not und Orientierungslosigkeit, machen im Umkehrschluss den »Königsvorzug« des Menschen vor anderen Lebewesen aus. Während selbst das höhere Tier aufgrund und trotz seiner Naturgebundenheit immer »ein gebückter Sklave« [42] bleibt, erscheint der Mensch als »der erste Freigelassene der Schöpfung« (Herder 1869, 107). Vor diesem Hintergrund wird es auch unzulässig, ihn nur mit dem Maß der organischen Welt zu vermessen. Er strebt in gewisser Weise als »Freigelassener« über die natürliche Schöpfungsordnung hinaus – und dieses Streben und sein Ziel müssen mit einem anderen Maß gemessen werden.
Gerade in der Anerkennung der Vielfalt menschlicher Erscheinungs- und Ausdrucksformen liegt die Stärke der anthropologischen Konzeption Herders, aber auch ihre Schwäche. Denn sie erklärt diese Vielfalt in Analogie zur organischen Lebenswelt insgesamt, kann aber nicht die Sonderstellung des Menschen unter Beibehaltung des Analogieprinzips begründen. Immanuel Kant (1724–1804) hat in seiner Rezension zu Herders
Ideen
angemerkt, dass »er diese Schlußfolge aus der Analogie der Natur […] doch nicht einsehe. Denn es sind da verschiedene Wesen, welche die mancherlei Stufen der immer vollkommneren Organisation besetzen.« (Kant 1977a, 790) Das Analogieverfahren lässt nach Kants Auffassung die Gleichförmigkeit einer allgemeinen Naturtendenz zur Vervollkommnung der jeweiligen Seinsform erkennen, gibt aber keinen Anhaltspunkt, um die sie trennenden Wesensunterschiede zu beschreiben. Die Bestimmung des Menschen als »Mittelglied zweier Welten« im Sinne Herders ist nach Kant Ausdruck dafür, dass das philosophische Grundproblem nicht gelöst ist.
Kant hat das Wort geprägt, dass der Endzweck alles Philosophierens kein anderer als »die ganze Bestimmung des Menschen« (KrV, A 840) sei. Diese Aufgabenstellung steht unter dem Primat der praktischen Vernunft, denn nach Kant gehört es zu den dringlichsten Aufgaben einer Bestimmung des Menschen, das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit zu erläutern und den Handlungsspielraum des Menschen im Reich der Notwendigkeit, also im Verhältnis zu seiner inneren und äußeren Natur, zu entfalten. In diesem Sinn betont er die Differenz einer »Anthropologie in [43] pragmatischer Hinsicht« (so auch der Titel seiner 1798 erschienenen Schrift) gegenüber einer auf bloß physiologische Beschreibung ausgerichteten Anthropologie. Kant stimmt in seiner Kritik am Materialismus durchaus mit Herder überein, führt jedoch gegen das Prinzip der Analogie, das alle Lebewesen in der organischen Welt grundsätzlich vergleichbar macht, die cartesische Dualität als Funktionsmodell wieder ein. Das anthropologische Programm seiner drei Kritiken besagt, dass der ganze Mensch in seinem Selbstverständnis als komplexe Struktur von Materie nicht zureichend bestimmt ist. Zum Begriff, den sich der Mensch von sich selbst macht, gehört ein Konzept von Freiheit und Moralität, das die materielle Gebundenheit menschlichen Lebens und ein bloß kausales Muster von Entwicklung überschreitet. Das menschliche »Reich der Freiheit« entzieht sich bei Kant jedem Vergleich mit der Ordnung der Natur.
Während an der Epochenschwelle um 1800 auf der einen Seite in der materialistischen Konzeption und in einer Philosophie des Organischen jeweils Ordnungsvorstellungen von Natur beschrieben werden, in denen der Mensch Teil eines Ganzen ist, steht auf der anderen Seite eine Philosophie der Freiheit, die das Projekt der Selbstbestimmung des Menschen in den Konflikt mit seiner Naturhaftigkeit treibt. Dieser Gegensatz bewegt das anthropologische Denken seit der Antike und ist seither, wie wir gesehen haben, nicht gelöst, sondern immer wieder von neuem prägnant und zeitgemäß artikuliert worden.
[44]
Der Mensch in der Natur
Das 19. Jahrhundert ist durch den Einzug der
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