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Philosophische Anthropologie

Philosophische Anthropologie

Titel: Philosophische Anthropologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hartung
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Geschichtlichkeit, Variabilität und Pluralität des Menschseins durchgesetzt und sind zum normativen Kern der Beschreibung kultureller Systeme geworden. Michael Landmann hat diese Entwicklung vorhergesehen, als er vermerkte, dass »die Kulturanthropologie […] die Anthropologie der Zukunft sein« wird (Landmann 1982, 172). Als solche tritt die Kulturanthropologie die Erbschaft einer langen Tradition an. Hinter ihrer programmatischen Forderung, die Bestimmbarkeit des Menschen am Leitfaden einer Analyse der unbegrenzten Vielfalt von Denkformen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung auszurichten, steht weiterhin die Frage nach dem ganzen Menschen.
    Clifford Geertz (1926–2006) hat die Disziplin der Kulturanthropologie auf das Niveau einer Anthropologie der Zukunft gehoben. In seinem Werk
Welt in Stücken
(1996) beschreibt er die Destruktion eines einheitlichen Kulturbegriffs der Moderne und weist auf die notwendigen Konsequenzen hin. Geertz vertritt die These, dass in der anthropologischen Forschung nur noch mit einem Kulturbegriff operiert werden kann, der die Aspekte der Geschichtlichkeit, Variabilität und Pluralität integriert. Sein Begriff von Kultur geht vom Menschen als sinnverstehendem Wesen aus. »Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe.« (Geertz 1987, 9) Geertz knüpft an die sinnverstehende Soziologie, die philosophische Hermeneutik und die Symboltheorie Cassirers an. Seine deutende Theorie der Kultur wendet sich gegen universalistische und vereinheitlichende Konzepte und plädiert für die Analyse lokalen Wissens. Jede Kulturanalyse beruht seiner Ansicht nach auf einem interpretierenden Verfahren. In diesem Zusammenhang fällt das berühmte Wort von der Ethnografie als »dichter Beschreibung« (Geertz 1987, 15). Die Aufgabe des Ethnologen ist es, kulturelle Systeme zu erfassen, indem [110] er die Vielfalt komplexer, ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen herausarbeitet. Dieses Verfahren kann sich über alle Dimensionen des sozialen Handelns – Kunst, Religion, Wissenschaft, Politik usw. – erstrecken.
    Ausgehend von Cassirers Bestimmung des Menschen als »animal symbolicum«, das sich in seinen kulturellen Ausdrucksleistungen offenbart, nimmt auch Geertz die symbolische Dimension menschlichen Handelns in den Blick. Die anthropologische Prämisse befreit ihn von der Frage nach dem ontologischen Status menschlichen Tätigseins und rechtfertigt zugleich den Anspruch seiner universalen Vergleichbarkeit auf der Ebene symbolischer Vermitteltheit. Im Hinblick auf jedes Kultursystem – so erfasst Geertz beispielsweise Religion und Ideologie als universale Kultursysteme – wird es so möglich, vergleichbare Aussagen über die kulturelle Existenz des Menschen in unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten zu treffen. Die Kulturanthropologie beantwortet nicht, wie Geertz hervorhebt, die tiefsten Fragen unserer Existenz, aber sie macht uns mit der Vielfalt an Antworten auf diese Fragen vertraut und nimmt diese Antworten »in das jedermann zugängliche Archiv menschlicher Äußerungen« auf (Geertz 1987, 43).
    Das Archiv der Kulturanthropologie versammelt die Daten der Menschheit. Es ist die Einlösung der Forderung Cassirers, dass das Sein des Menschen nur in seinem Tun erfassbar ist. Angesichts eines unendlichen Prozesses der Sinnproduktion und des Sinnverstehens ist das Konzept »Menschheit« kein definierbarer Begriff. Die Archivsammlung bleibt daher immer unvollständig und das Archiv unabschließbar. Aus diesem Zusammenhang resultiert denn auch das größte theoretische Dilemma der Kulturanthropologie: die Frage nach einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Vielheit und Einheit. Geertz stellt der Vielfalt der Kulturformen die Einheit der Menschheit in biologischer Hinsicht entgegen und formuliert für die kulturanthropologische Arbeit den Anspruch, im interpretatorischen Verfahren einen [111] »Einklang« zwischen beiden Perspektiven herzustellen. (Geertz 1987, 33) Der Trick dieses Verfahrens liegt darin, dass weder die Vielheit der Kulturformen als Derivat einer einheitlichen Natur des Menschen noch die Einheit der Menschheit als bloße Summe seiner kulturellen Ausdrucksleistungen betrachtet werden kann. Vielmehr ist es so, dass Einheit und Vielheit funktionale Gegensatzbegriffe sind, die sich wechselseitig beleuchten können. Auch der Kulturanthropologe steht vor dem

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