Philosophische Anthropologie
Problem, in der Beobachtung verschiedener Kulturen und der Untersuchung ihrer unterschiedlichen Kultursysteme, etwa der Sprachen, ein allgemeines Konzept des Menschseins vorauszusetzen. Wie auch immer er es bestimmt, es muss ein Kriterium erfüllen: Es muss sich durch die Untersuchungsergebnisse verändern lassen und offen für weitere Bestimmbarkeit sein.
[112]
Der Mensch in der biologisch-technischen Welt
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein Wiedererstarken der materialistischen Sicht auf menschliches Leben zu beobachten. Diese Entwicklung ist der Forschung zur Geschichte des Lebens und den Möglichkeiten technischer (Re-)Produzierbarkeit des Lebens geschuldet. Die sogenannten Lebenswissenschaften oder Biosciences sind zu einem Sammelbecken aller Forschungen am Menschen geworden, in denen es um eine Optimierung des menschlichen Lebens an seinem Anfang, in seiner Mitte und an seinem Ende geht. Zielvorstellung ist hier ein Höchstmaß an Kontrolle, also eine Ausschaltung der Risiken, die von der Naturseite des Menschen herrühren: Der Zufall genetischer Herkunft soll durch eine gezielte Auswahl des Genmaterials ausgeschaltet, das Risiko von Erkrankung durch ebendiese Vorauswahl und gezielte Diagnose gemindert, der Prozess der Alterung gestoppt und die größte Kränkung für den Menschen, der unvorhersehbare Tod, beherrschbar werden. Werden diese Ziele erreicht, dann wird die zweite Natur zur ersten geworden sein. Überall, wo Natur war, wird dann Kultur sein.
So könnte sich die darwinsche Revolution in der technischen Praxis vollenden, ohne dass es hierfür einer angemessenen philosophischen Begründung bedürfte. Das späte 20. und das frühe 21. Jahrhundert sind durch ein Voranschreiten der Forschung und ein stetes Nachhinken der theoretischen, zumeist ethischen Debatten geprägt. Erst in den letzten Jahren deutet sich eine Wiederkehr des anthropologischen Denkens an; und es ist in letzter Zeit eine ganze Reihe von Büchern und neuen Zeitschriften erschienen, die sich der Frage »Was ist der Mensch?« von neuem zuwenden. Der Diskussionsstand ist seit einem halben Jahrhundert durch eine Verschiebung von geradezu paradigmatischem Charakter [113] gekennzeichnet, die im Perspektivenwechsel von den Bilderpaaren Gott / Mensch und Tier / Mensch zur Mensch-Maschine-Metapher kulminiert. Die Verschiebung selbst ist nicht originell, weil sie im 18. Jahrhundert unter dem Stichwort »l’homme machine« schon einmal da gewesen ist, aber sie eröffnet im Zeitalter der angestrebten technischen Produzierbarkeit des Lebens eine neue Dimension in der biologisch-technischen Welt.
Die Diskussion lässt sich in drei Phasen gliedern. In einer ersten Phase wird versucht, in der Forschung zur künstlichen Intelligenz die Bedingungen zu beschreiben, unter denen mit Intelligenz ausgestattete Maschinen der menschlichen Intelligenz gleichwertig und möglicherweise überlegen sind. Bekannt geworden ist in den letzten Jahren die enorme Leistungsfähigkeit von Schachcomputern, mit denen Menschen kaum mehr konkurrieren können. Weiterhin wird in einer Phase der neurowissenschaftlichen Forschung der Sonderstatus menschlichen Bewusstseins untersucht und nach der Natur des Geistes geforscht. Das Ziel dieser Forschung ist es, die natürlichen Grundlagen kognitiver Prozesse freizulegen und eine Antwort auf die Frage »Was ist Bewusstsein?« zu liefern.
Erst in einer dritten Phase, an deren Anfang wir uns befinden, wird der Versuch unternommen, die Ergebnisse dieser Forschungen zur Anwendung zu bringen. Zum einen geht es darum, an der Schnittstelle von Mensch und Maschine eine Optimierung des menschlichen Lebens herbeizuführen. Die Rede ist von »human enhancement«, das heißt von »menschlicher Verbesserung«, als einer Entgrenzung des natürlichen menschlichen Körpers durch genetische Modifikation (Gentherapie), technologische Aufrüstung (Herzschrittmacher, Hirnschrittmacher beim Morbus Parkinson usw.), plastische Chirurgie (ästhetisch oder rekonstruktiv) und Anwendung von Psychopharmaka (etwa Ritalin). Zum anderen wird angestrebt, die Erkenntnisse aus der Evolution von Organismen auf die Konstruktion künstlicher Systeme zu übertragen. Ziel [114] ist es hier zum Beispiel, Systeme künstlicher Intelligenz so auszustatten, dass sie entwicklungsfähig sind und sich in komplexen Entscheidungssituationen zurechtfinden. Dazu gehören Intentionalität und entwicklungsfähige Emotionalität – mithin all das, was menschliche
Weitere Kostenlose Bücher