Pilger des Zorns
Spätburgunder natürlich nicht zu vergessen.«
Bruder Hilperts Miene hellte sich schlagartig auf. »Sei bedankt, Irmingardis!«, antwortete er gerührt. »Und versprich mir, auf dieses Raubein mit Namen Berengar ein Auge zu haben. Damit er mir nicht auf die schiefe Bahn …«
An sich war der Anblick, der Bruder Hilperts Redefluss abrupt unterbrach, nichts Ungewöhnliches, und was ihn an dem Mädchen am Bug der ›Charon‹ interessierte, wusste er selbst nicht so genau. Als sie die Kajüte auf dem Achterdeck verlassen und sich an Taurollen, Säcken und Weinfässern vorbei in Richtung Bug geschlängelt hatte, war sie ihm kaum aufgefallen. Jetzt allerdings schon. Während sie dort stand, die eine Hand an der Reling, die andere um das Vorstag geschlungen, ging von ihr eine beklemmende Aura aus. Auf Anhieb wurde ihm klar, dass irgendetwas mit dem auffällig blassen, schwarzhaarigen und mit Ausnahme der dunkelblauen Schürze ganz in Weiß gekleideten Mädchen nicht stimmte. Von der Blässe abgesehen, war es der starre, in die Ferne gerichtete Blick, der Bruder Hilperts Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Mädchen war von zarter Statur und gerade erst dem Kindesalter entwachsen. Doch nicht, was ihren Gesichtsausdruck anging. Diesbezüglich sah das Mädchen wesentlich älter aus, fast schon wie eine Erwachsene. Erwachsen, um nicht zu sagen beklemmend, wirkte auch ihr Blick. Starr, entrückt, auf einen unsichtbaren Punkt fixiert. Einen Punkt, der offenbar nur in ihrer Fantasie existierte.
Außerstande, sich von dem Anblick loszureißen, hatte Bruder Hilpert komplett den Faden verloren. Wäre Berengar nicht gewesen, hätte sich daran wohl kaum etwas geändert. Doch als ihm die sich auf und nieder bewegende Pranke des Freundes den Blick versperrte, kam er zur Besinnung.
»Schon wieder bei deinem nächsten Fall?«, feixte der Vogt, während sein Daumen über die Schulter hinweg auf das Mädchen zeigte. »Scheint so, als wärest du nicht der einzige Passagier an Bord!«
»Kann man wohl sagen!«, ergänzte Irmingardis, als sich eine üppige Matrone ins Blickfeld der drei Freunde schob. Dank der Flügelhaube, unter der ihr rötliches Haar zum Vorschein kam, wäre ihr die Kajütentür um ein Haar zum Verhängnis geworden. Eine Verwünschung auf den Lippen, kämpfte sie sich jedoch wieder frei, raffte den Rock aus karmesinrotem Brokat und trampelte wie ein vorsintflutliches Ungetüm auf das Mädchen zu. Schon nach wenigen Schritten außer Puste, blähte sich ihr Gesicht vor Zorn, ganz zu schweigen von seiner Farbe, die der eines Krebses nicht unähnlich war.
Keine zehn Schritte mehr vom Bug entfernt kam die Matrone jedoch abrupt zum Stehen. Die Passanten auf dem Kai taten es ihr gleich. Aller Augen, nicht nur die von Bruder Hilpert, waren urplötzlich auf das Mädchen gerichtet. Kein Wunder, denn so etwas bekam man hier selten zu sehen.
Ob das, was nun geschah, eine Reaktion auf die zu erwartende Schelte war, konnte Bruder Hilpert nicht mit Sicherheit sagen. Denkwürdig war es allemal. Bis dahin wie erstarrt, erwachte die zierliche Gestalt zum Leben. Und das in einem Maße, welche die Umstehenden erschaudern ließ.
Den Anfang machten die Lippen, nicht mehr als ein farbloser Strich. Zuerst war da nur ein kaum wahrnehmbares Zucken, dann ein Vibrieren, danach geriet alles im Gesicht des Mädchens in Bewegung. Der Mund öffnete sich, einen Zoll weit, zwei, bis zu dem Punkt, an dem jeder, Hilpert mit eingeschlossen, mit einem markerschütternden Schrei rechnete. Doch der Schrei kam nicht, obwohl der Mund des Mädchens sperrangelweit offen stand. Das Gesicht zu einer Fratze des Entsetzens verzerrt, riss das Mädchen die Arme vors Gesicht und wich Zoll um Zoll zurück. Allein mit sich und ihrem imaginären Gegner, gab es nichts, was die 15-Jährige besänftigen konnte, und nicht nur Bruder Hilpert stellte sich die Frage, was geschehen wäre, wenn der Lockenkopf nicht eingegriffen, das Mädchen untergehakt und wieder in die Kajüte zurückgebracht hätte. Sehr zum Ärger der Matrone, deren Blicke, die sie den beiden hinterherschleuderte, Bände sprachen.
Als sich die Lage beruhigt, die Matrone den Rückzug angetreten und die Menge sich wieder zerstreut hatte, war Hilperts gute Laune verflogen. Ein Blick auf die Freunde, und ihm war klar, dass es Irmingardis und Berengar nicht anders ging. Die Stunde des Abschieds war gekommen. Trotz oder gerade wegen des denkwürdigen Schauspiels, zu dessen unfreiwilligen Zeugen sie geworden
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