Pilger des Zorns
Gefahr hin, dass er sich blamierte.
Als könne er Gedanken lesen, stemmte der Mann auf dem Achterdeck die Hände in die Hüften und spie verächtlich aus. Dies war aber erst der Anfang. Bevor der Junge wusste, wie ihm geschah, hatte er einen Satz über die Reling gemacht, einen besonders langen, noch dazu widerborstigen Aal gepackt und dem Jungen damit ins Gesicht geschlagen. Der war fürs Erste so perplex, dass er nicht einmal ins Taumeln geriet. Erst als der Mann zum zweiten Mal ausholte, verformte sich das bis dahin regungslose Gesicht, und er riss schützend die Arme empor.
Dann endlich schien der Mann zur Besinnung zu kommen und ließ von dem Knaben ab. Freilich nicht, ohne die angestaute Wut an dem Aal abzureagieren, mit dessen Leib er die Bordwand auch dann noch traktierte, als dieser keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab.
Auf dem Mainkai kehrte Stille ein, und die Amüsiertheit der Gaffer schlug in gespannte Erwartung um. Ein Fischverkäufer, der Hecht, Stör, Barsch, Karpfen und Forellen feilbot, wischte sich die Hände ab und trat neugierig hinzu. Nicht anders sein Nachbar, ein Gnom mit Stoppelbart, der gerade einen Flusskrebs in siedendes Wasser getaucht hatte. Das hier war zur Abwechslung einmal etwas Neues. Darin waren sich alle einig.
Was allerdings dann geschah, war so ungewöhnlich, dass sich kein Mensch einen Reim darauf machen konnte. Der Lockenkopf war wie erstarrt, die zerfetzten Überreste des Aals immer noch in der Hand. Keuchend vor Erregung hielt er den Kopf gesenkt, ohne Blick für das, was um ihn herum geschah. Dann warf er den klebrigen Torso in den Fluss, stopfte die Hände in die Tasche seiner ledernen Beinlinge und rührte sich nicht mehr vom Fleck.
Nicht so der Knabe, der sich das flachsblonde Haar aus dem Gesicht strich, vorsichtig näher trat und dem Lockenkopf die Hand auf die Schulter legte. Geraume Zeit rührte sich keiner der beiden von der Stelle, und als sei nicht er es, dem Unrecht widerfahren war, redete der Knabe dem fast zwei Köpfe größeren Kapitän gut zu.
Berengar von Gamburg, per Zufall Augenzeuge, war völlig verblüfft. Irmingardis, die sich bei ihm untergehakt hatte, nicht minder, und der Blick, den die Frischverlobten miteinander tauschten, sprach Bände.
»Hast du das gesehen?«, raunte der 29-jährige Vogt des Grafen von Wertheim seiner Begleiterin ins Ohr, als sich die Menge wieder zu zerstreuen begann.
Die knapp sieben Jahre jüngere, zierliche, dafür aber umso hübschere ehemalige Ordensschwester, die sich bei dem fast sechs Fuß großen Hünen mit dem schulterlangen dunklen Haar untergehakt hatte, nickte. Ihr Kleid war aus Leinen, dezent mit Goldfäden durchwirkt, das Haar unter einer Haube verborgen. Ihrem Liebreiz und der damit verbundenen Ausstrahlung tat das freilich keinen Abbruch. Und einem Lächeln wie dem ihrigen pflegte man ohnehin nur auf Abbildungen der Muttergottes zu begegnen. »Hab ich!«, erwiderte sie knapp und ließ der Diskretion halber den Blick über die angrenzenden Verkaufsstände schweifen. »Und was nun?«
»Na ja – wenn mich nicht alles täuscht, sind wir hier richtig!«, antwortete Berengar und wies mit dem Kinn in Richtung des Schiffes, vor dem sich die denkwürdige Szene abgespielt hatte. Der Lockenkopf, sein Kapitän, war im Begriff, wieder an Bord zu gehen, gefolgt von dem Knaben, der ihm nicht von der Seite wich.
»›Charon‹ – merkwürdiger Name!«, wunderte sich Berengar, als er den Namenszug am Bug entdeckte. Mit einer Länge von schätzungsweise 25 und einer Breite von circa acht Ellen war das Schiff ungewöhnlich groß. Die Planken aus Eichenholz, fein säuberlich kalfatert und mit Nieten versehen, insbesondere auf den Spanten. Das Achterkastell, unter dem sich die Kapitänskajüte befand, dazu eine behelfsmäßige Laube aus Segeltuch unmittelbar vor dem Mast, mit seinen an die sechs Ellen ungewöhnlich hoch. Angefangen beim Bug, bis hin zur Takelage und dem Rahsegel ragte die ›Charon‹ aus den Kähnen, Booten und Einbäumen somit allein schon aufgrund ihrer Größe hervor.
»Nicht, wenn man sich in griechischer Mythologie auskennt!«, erwiderte Irmingardis mit spitzbübischem Lächeln und hauchte Berengar einen Kuss auf die Wange. »Derzufolge es einen greisen Seemann mit Namen Charon gab, der die Todgeweihten über den Styx ins Reich des Gottes Hades zu rudern pflegte. Für einen Obolus, versteht sich!«
»Wie? Nicht umsonst?«, frotzelte Berengar, legte den Arm um sie und drückte Irmingardis
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