Pilgerspuren: Palzkis siebter Fall (German Edition)
drüben? Das hat keinen bestimmten Namen, wir nennen es immer das ›Haus
in der Engelsgasse‹. Es war früher ein Altersheim«, sagte Frau Knebinger. »Nachdem
man die heutigen Standards in der Altenpflege in dem alten Gebäude nicht mehr gewährleisten
konnte, hat man das Altersheim geschlossen.«
»Steht das
leer? Das könnte man doch vermieten?«
Frau Knebinger
zog eine Augenbraue hoch. »Sie wollen es aber genau wissen, das gefällt mir.« Sie
zeigte auf das ebenfalls reparaturbedürftige Dach. »Da müsste man so viel investieren,
das lohnt sich kaum. Bis jetzt haben wir keine Idee, wie wir den gesamten Bau nutzen
könnten.«
Ich war
in Höchstform und hatte den versteckten Hinweis entdeckt.
»Wenn ich
Sie richtig verstanden habe, nutzen Sie zurzeit nur einen Teil des Gebäudes. Ist
das richtig?«
Die Innenrevisorin
war noch mehr überrascht. Auch Wolf schien über meine Fragen erstaunt.
»Dort befindet
sich das Planarchiv des Bistums. Den Mitarbeitern dieser Abteilung ist der Zustand
der Büros egal, da sie sowieso die meiste Zeit im Bistum unterwegs sind. Und im
Keller lagert dieser Marco Fratelli alte Plastikplanen. Angeblich hat er eine persönliche
Genehmigung des Generalvikars. Das steht auch noch auf meiner Überprüfungsagenda.«
»Da will
ich hin«, entschied ich spontan. Ein altes heruntergekommenes Gebäude, ein Keller,
in dem seltsame Dinge lagerten und eine Abteilung, der der Zustand der Büros egal
war: Dass da etwas nicht stimmen konnte, hatte ich bereits als Viertklässler bei
der Lektüre von Enid Blytons Jugendkrimis gelernt.
9
Orgelklänge
Wolf versuchte eindringlich, mir
diese Idee auszureden, doch ich ließ nicht locker. Wir verabschiedeten uns von Frau
Knebinger und stiegen in einen Aufzug, der sich in der Nähe des Archivs befand.
Im Hof des Ordinariats angekommen, überquerten wie diesen der Länge nach und gelangten
so zur Engelsgasse.
Der Kanzleidirektor
zeigte auf eine kleine Kapelle neben dem Tor.
»Die Kapelle
ist immer noch in Betrieb. Einmal im Monat gibt es hier einen Mitarbeitergottesdienst.«
Direkt dahinter
befand sich das ehemalige Altersheim. Auch auf der Vorderseite sah es ziemlich heruntergekommen
und teilweise baufällig aus. Eine kleine Außentreppe führte zu einem Eingang. Wolf
schloss auf.
»Die Mitarbeiter
schließen sich immer ein. Zum einen haben sie keinen Kundenkontakt, zum anderen
müssen sie so nicht ständig aufpassen, ob sich jemand unbefugt ins Gebäude schleicht.«
Ich folgte
ihm ins Innere. Verwundert registrierte ich hinter der Eingangstür auf Bodenhöhe
eine Lichtschranke, die jemand dilettantisch zu verstecken versucht hatte. Da Wolf
nichts darüber sagte, wahrscheinlich hatte er sie nicht mal bemerkt, behielt ich
die Entdeckung zunächst für mich.
Es roch
nach feuchtem Altbau und es sah auch so aus: Zerrissene und nikotinvergilbte Tapeten
wellten sich von den Wänden, früher reichlich vorhandene Stuckelemente waren nur
noch bruchstückhaft zu erkennen. Alles war total verstaubt, was bei mir sofort einen
heftigen Niesreiz auslöste. Blicke in offenstehende, nicht genutzte Räume ließen
erahnen, dass anscheinend Sperrmüllmessies am Werk waren. Wolf ging zügig auf die
einzige geschlossene Bürotür am Ende des Flures zu.
Ein menschenunwürdiger
Mief aus mindestens 1.000 Jahren schlug uns entgegen, als wir den Raum betraten.
Die Einrichtung wirkte wie ein krasser Verstoß gegen die Genfer Konventionen. Wer
hier arbeiten musste, hatte entweder mit dem Leben abgeschlossen oder musste ziemliche
Reichtümer verdienen, um in diesem Raum freiwillig zu malochen.
In dem Büro,
Modell ›Amtsstube Fünfziger Jahre‹ befanden sich drei Schreibtische, bei denen sich
selbst Müllwerker weigern würden, diese als Sperrmüll anzuerkennen.
An einem
der drei Tische, der einzige, der in den letzten 20 Jahren einmal abgewischt worden
war, saß ein Mittfünfziger in Jogginghosen und fleckigem T-Shirt. Sein roter Kopf
und die zerzausten Haare gaben meiner Meinung Nahrung, dass er vor wenigen Sekunden
aus einem gesunden Büroschlaf hochgeschreckt war. Auf dem Schreibtisch lagen Aktenstapel
und ein paar Ordner, die aufgrund der Staubschicht schon etwas länger der Bearbeitung
harrten. Eine Bild-Zeitung, die auf den staubigen Akten lag, schien das einzige
Schriftstück aus diesem Jahr, vielleicht sogar Jahrzehnt, zu sein.
Der Mann
stand auf. »Hallo, Herr Wolf«, begrüßte er den Kanzleidirektor unsicher. »Schön,
dass Sie uns mal wieder
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