Pilgerspuren: Palzkis siebter Fall (German Edition)
gewaltiges Raumvolumen. Und das alles von Menschenhand
geschaffen. Dieser Ausblick gehörte zu den schönsten meines Lebens.
Ich wusste
nicht, wie lange ich in den Dom starrte, irgendwann wurde der Kanzleidirektor ungeduldig.
»Wir wollen
doch zur Orgel, oder?«
Widerwillig
drehte ich mich zu ihm um. Wolf zeigte auf eine enge Metallwendeltreppe in der gegenüberliegenden
Raumecke.
Was nun
kam, toppte den gerade gewonnenen Eindruck erneut. Einen Stock höher standen wir
wie in einer anderen Welt. Alles war voller Spiegel und Glas. Im ersten Moment dachte
ich an die Spiegellabyrinthe, die man manchmal auf einer Kirmes sieht. Hinter raumhohen
Glasflächen standen und hingen Orgelpfeifen in riesiger Anzahl und allen denkbaren
Größen. Manche Gruppen sahen aus wie Sektkelche, andere bestanden aus langen Röhren.
Wolf nahm einen schmalen Gang, der kurz darauf einen Linksknick machte. Nun sahen
wir mehrere Dinge gleichzeitig. Links von uns stand eine Art Klavier mit Hunderten
kleinen Kippschaltern, rechts von uns konnte man durch eine Wandöffnung wieder in
das Langhaus des Domes schauen. Statt einer Brüstung hatte man ein paar breite Bretter
provisorisch angeschraubt. Von hier musste anscheinend das Absturzgitter stammen,
das Fratelli und Nönn beinahe erschlagen hatte.
Auch wenn
ich meine Blicke am liebsten sofort wieder in das Dominnere wandern lassen wollte,
gab es noch etwas Interessanteres zu sehen: Neben der Orgel standen dicht gedrängt
vier Personen, die höllisch erschraken, als wir um die Ecke bogen. Einer zog neben
der Orgel schnell eine raumhohe Tür zu, die vermutlich einen Schrank verbarg. Auch
hier war alles verspiegelt, was die Menschengruppe noch unheimlicher wirken ließ.
Auch der Kanzleidirektor hatte nicht damit gerechnet, hier oben auf weitere Personen
zu treffen.
»Ah, die
Herren von der Dommusik«, meinte er ebenfalls überrascht.
Der älteste
der vier Männer antwortete: »Wir, äh, ja also, äh, das ist so, äh, wir haben uns
zu einer Besprechung getroffen.«
Die anderen
wirkten nervös und nickten zustimmend, was ich sehr verdächtig fand.
Ich mischte
mich ein. »Das ist aber ein ungewöhnlicher Ort für eine Besprechung, finden Sie
nicht? Warum haben Sie sich eingeschlossen?«
»Das machen
wir immer so«, antwortete einer der Männer, dessen Frisur in etwa der meines Kollegen
Gerhard Steinbeißer entsprach. »Damit keiner der Besucher unbefugt nach oben kann.«
»Als Domorganist
muss man da schon aufpassen, nicht wahr, Herr Tannenzapf?«, bestätigte ihn Wolf.
Mir gefiel
die Aussage nicht. Irgendetwas hatten diese Herrschaften auf dem Kerbholz. Planten
sie vielleicht bereits das nächste Attentat auf Fratelli und Nönn?
Der Domorganist
mit dem seltsamen Namen Tannenzapf schaute Wolf verlegen an. Überhaupt, was organisiert
ein Domorganist mit der Dommusik? Irgendwelche musikalischen Veranstaltungen oder
vielleicht die Renovierung des Kaisersaales, der sich ja auch hier oben befand?
Ich war erneut verwundert über die manchmal seltsamen Berufsbezeichnungen.
»Wie geht’s
Ihnen, Herr Caspari?« Wolf schaute den rechten Nachbar von Tannenzapf an.
Caspari
antwortete. »Sie wissen ja, als Domkapellmeister hat man immer viel zu tun.«
Der Rest
der Gruppe nickte, und ich war erneut verwirrt. Mit Musik hatte ich noch nie viel
am Hut und mein diesbezügliches Fachwissen war äußerst begrenzt. Man konnte schließlich
nicht in allen Bereichen glänzen. Aber was machte ein Kapellmeister im Dom? Kapellen
waren doch kleine Kirchen, oder? Wenn ein Kapellmeister folglich so eine Art Hausmeister
einer kleinen Kirche war, was machte er hier oben bei der Orgel? Gab es vielleicht
einen unerklärlichen Zusammenhang zur Dommusik? Ich war schon sehr gespannt, welche
Berufe die anderen beiden Herren ausübten.
Einer, der
bisher noch nichts gesprochen hatte, nutzte die Gelegenheit und trat vor. Ich durchschaute
sein Ablenkungsmanöver sofort.
»Vielleicht
sollten wir uns erst einmal Ihrem Gast vorstellen, Herr Wolf.« Er drehte sich zu
mir und gab mir die Hand. »Mein Name ist Alex Mauer, ich bin der Domkantor.«
Bevor ich
über diesen neuen Begriff nachdenken konnte – hatte das nicht etwas mit einem Schweizer
Bundesland zu tun? –, schüttelte er mir heftig die Hand. Fast im Reflex nannte ich
ihm meinen Namen und fügte an, dass ich Kriminalkommissar sei.
Schlagartig
hörte das Händeschütteln auf, und für ein paar Sekunden hing eine unheimliche Stille
im Raum.
Tannenzapf,
der Organisator
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