Pilot Pirx
die stählerne Nußschale der Station. Er rieb sich die Augen – sie brannten, als habe jemand Sand hineingestreut. Nach einer Weile erhob er sich. Er tat dies so schwerfällig, als habe sich sein Gewicht verdoppelt. Er trug die schmutzigen Teller zum Spülbecken, warf sie hinein, daß es schepperte, und drehte den Warmwasserhahn auf. Während er sie von den erstarrten Fettresten säuberte, lächelte er über seine einstigen Träume. Sie waren auf dem Wege zum Mendelejew-Kamm von ihm abgefallen und so weit zurückgeblieben, daß sie nun lächerlich und fremd anmuteten, so fremd, daß er sich ihrer schämte.
Langner blieb immer derselbe – man konnte einen Tag oder ein Jahr mit ihm verbringen, ohne daß er sich änderte. Er arbeitete gern und regelmäßig. Niemals zeigte er Hast. Er hatte keine Laster und keine Schrullen. Wenn man gezwungen ist, mit einem Menschen längere Zeit auf engstem Raum zu leben, dann neigt man leicht dazu, sich über die geringste Kleinigkeit aufzuregen. Gereizt stellt man fest, daß der andere sich viel zu lange unter der Dusche aufhält, daß er sich weigert, Büchsen mit Spinat zu öffnen, weil er keinen Spinat verträgt, daß er sich nicht regelmäßig rasiert und mit seinen Bartstoppeln ungepflegt aussieht oder daß er sich viel zu oft rasiert und dauernd vor dem Spiegel Grimassen schneidet ... Langner aber bot ihm keinen Anlaß. Er aß alles – wenn auch ohne besonderen Appetit –, er hatte keine Launen, und er wusch ab, wenn es notwendig war. Über seine Arbeit verlor er kein Wort, aber wenn Pirx ihm Fragen stellte, antwortete er bereitwillig. Er mied Pirx nicht, drängte sich ihm aber auch nicht auf. Und eben diese Neutralität hätte Pirx vielleicht geärgert, zumal Langner gar nicht mehr so heldenhaft wirkte wie am ersten Abend. An diesem ersten Abend hatte Pirx ihn bewundert – im Grunde nicht wegen des »Heldentums«, sondern wegen der stoischen Ruhe des Wissenschaftlers.
Dieser erste Eindruck hatte sich jedoch verflüchtigt. Pirx sah in Langner, dessen Gesellschaft ihm aufgezwungen war, lediglich einen eintönigen Menschen, obwohl er nicht sagen konnte, daß dieser Mensch ihn langweilte. Er, Pirx, hatte vorläufig mehr als genug zu tun, er hatte eine Beschäftigung, die ihn völlig in Anspruch nahm. Nun, da er die Station und ihre Umgebung kannte, ging er nämlich noch einmal daran, alle Dokumente über den Unfall zu studieren.
Die Katastrophe hatte sich vier Monate nach Inbetriebnahme der Station ereignet. Entgegen allen Erwartungen war sie nicht im Morgengrauen oder in der Dämmerung vor Beginn der Mondnacht eingetreten, sondern mittags. Drei Viertel der überhängenden Platte des Adlerflügels stürzten ohne vorherige Anzeichen ein. Vier Männer waren Augenzeugen des Unglücks; sie hatten in der Station auf eine Nachschubkolonne gewartet.
Spätere Untersuchungen ergaben, daß die tiefen Einschnitte im Adlerflügel den kristallenen Gesteinsboden beschädigt und sein tektonisches Gleichgewicht gestört hatten. Die Engländer schoben die Schuld den Kanadiern zu, die Kanadier den Engländern. Die Loyalität der Partner des Britischen Commonwealth kam darin zum Ausdruck, daß beide Seiten geflissentlich die Warnungen Professor Animzews verschwiegen. Aber wie es sich auch verhielt – die Folgen der Katastrophe waren tragisch. Die vier Männer in der Station waren kaum eine Meile vom Schauplatz des Unglücks entfernt. Sie sahen, wie sich die blendend weiße Wand teilte, wie das ganze System der Keile und Lawinenschutzmauern barst, wie der Weg und die ihn stützende Formation fortgetragen wurden und ins Tal sanken. Das Tal glich über dreißig Stunden lang einem brodelnden Meer – innerhalb weniger Minuten hatte das in Aufruhr geratene Geröll die gegenüberliegende Wand des Kraters erreicht.
Im Bereich der Zerstörung hielten sich zwei Transporter auf. Einer der beiden wurde augenblicklich von einer zehn Meter dicken Geröllschicht begraben – man fand nie wieder eine Spur von ihm. Der zweite versuchte zu entkommen. Er befand sich bereits am oberen Wegabschnitt, also außerhalb des Lawinenstroms, aber ein gewaltiger Quader übersprang die Reste der Schutzmauer und fegte ihn in den dreißig Meter tiefen Abgrund. Der Fahrer öffnete im letzten Augenblick die Luke und sprang in das tobende Geröll. Er allein überlebte – aber er überlebte seine Gefährten nur um wenige Stunden, und diese Stunden wurden für alle anderen zur Hölle. Jener Mann, ein kanadischer Franzose
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