Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Wolfram, wenn der Mörder das langsam getan hätte, dann hätte das Herz ja für kurze Zeit noch weitergeschlagen – und dann müsste man …«
»Rainer, mir reicht’s jetzt. Erspar mir bitte weitere Details. Schreib sie in deinen Bericht«, bat Tannenberg, den plötzlich ein starkes Unwohlsein überfiel. Er drehte sich um und machte sich ohne ein Abschiedswort auf den Weg nach draußen.
Aber der Pathologe folgte ihm sofort und hielt ihn am Ärmel fest. »Wolfram, warte mal. Es ist nicht zu fassen – du wirst tatsächlich alt. Hast du nicht vergessen, mich etwas Entscheidendes zu fragen?«
»Wieso? Was denn?«, fragte der altgediente Kriminalbeamte verwundert.
»Na ja, für professionelle Ermittlungen ist die Frage ja nicht unerheblich, ob die Frau Opfer eines Sexualverbrechens wurde.«
»Klar, Rainer, entschuldige.« Tannenberg schlug sich mit der linken Hand leicht an die Stirn. »Du hast völlig recht. Mir geht’s einfach im Moment nicht besonders.«
»Ich weiß. Du machst mir wirklich Sorgen. So kann das mit dir nicht weitergehen!«
»Das ist nur eine vorübergehende Konzentrationsschwäche«, versuchte Tannenberg seine dienstliche Nachlässigkeit zu erklären.
»Vorübergehend? Von wegen Konzentrationsschwäche! Das ist eine ausgewachsene Depression, mein Junge. Und das seit sechs Jahren! Ich weiß, wie sehr du Lea geliebt hast und wie schrecklich es für dich gewesen sein muss, hier unten von ihr Abschied zu nehmen. Aber das Leben muss doch weitergehen! Lea hätte bestimmt nicht gewollt, dass du dich so hängen lässt.«
»Ach, lass mich doch einfach in Ruhe. Du verstehst das nicht«, gab Tannenberg trotzig zurück. »Sag mir lieber, was du für Erkenntnisse hast. Ist die Frau nun missbraucht worden oder nicht?«
»Also«, begann der Gerichtsmediziner ruhig, »es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Frau missbraucht wurde. Ich habe nichts gefunden, was auf irgendeine Form von Gewalt in diesem Bereich hindeuten könnte. Die Frau hat zwar vor ca. 2 Tagen Geschlechtsverkehr gehabt, aber anscheinend völlig freiwillig. Und um die Frage zu beantworten, die du jetzt sicher gleich stellen willst: Ich kann dir noch nicht genau sagen, wann ich mit der Genanalyse fertig sein werde, aber ich beeile mich natürlich – wie immer!«
»Danke, Rainer … Übrigens auch für deine Freundschaft«, sagte Tannenberg leise. »Jetzt muss ich aber dringend an die frische Luft.«
»Gute Idee! Waldgebiete würde ich an deiner Stelle allerdings zur Zeit meiden.«
Ohne auf Dr. Schönthalers makabre Bemerkung einzugehen, verließ Tannenberg deprimiert den kalten Totenraum und schlurfte gedankenversunken durch die von grellem Neonlicht durchfluteten Krankenhausgänge.
Obwohl inzwischen die Mittagszeit schon längst vorüber war und er heute Morgen in seinem Büro außer zwei Tassen Kaffee und einem trockenen Croissant nichts zu sich genommen hatte, wollte sich noch immer kein rechtes Hungergefühl bei ihm einstellen. Der Formalin-Schleier, der sich seit dem Aufenthalt in den Katakomben des Klinikums über seine wehrlosen Nasenschleimhäute gelegt hatte, war einfach zu penetrant. Am liebsten wäre er jetzt nach Hause gegangen und hätte sich zu einem kleinen Mittagsschläfchen hingelegt, aber er musste leider zur Dienstbesprechung ins Präsidium.
»Na endlich, Herr Hauptkommissar, es wird ja auch Zeit!«, empfing ihn Oberstaatsanwalt Dr. Hollerbach vorwurfsvoll. »Wo ist denn eigentlich der Schauß, den hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen?«
»Der Glückliche befindet sich noch in den Flitterwochen; wahrscheinlich liegt er jetzt faul am Strand und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen«, antwortete Tannenberg.
»Oder er liegt gerade auf seiner frisch Angetrauten«, warf Geiger keck ein.
»Herr Kriminalhauptmeister Geiger, darf ich Sie um einen klitzekleinen Gefallen bitten?«, fragte der Oberstaatsanwalt.
»Ja, sicher! Sie immer Herr Dr. Hollerbach«, entgegnete Tannenbergs Mitarbeiter großzügig.
»Dann verschonen Sie uns wenigstens heute mal mit Ihrem primitiven Humor. Wir haben schließlich einen komplizierten Mordfall zu lösen.«
»Nein, Quatsch, der Schauß hat ja schon drei Wochen Urlaub, der müsste morgen früh wieder zum Dienst erscheinen«, berichtigte Tannenberg, nachdem er von einem kurzen Abstecher in ein Nebenzimmer zurückgekehrt war, wo er sich an dem dort befindlichen aktuellen Urlaubsplan kundig gemacht hatte.
»Gut, dann sind wir ja ab morgen vollzählig. Herr Hauptkommissar,
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