Piper und das Rätsel der letzten Uhr
George deutete zur Decke über dem Küchentisch und fügte bedeutungsvoll hinzu: »Von ihm stammen wohl all die Bilder, die oben an den Wänden hängen.«
Das klang spannend. »Und?«
Jetzt schaute er Piper ernst an. »Eines Tages dann verschwand der Junge.«
»Und?«
Onkel George pickte mit der Gabel ein Stück Kartoffel auf, tunkte es in den Quark und aß es. »Was und?«
Piper drängelte ungeduldig. »Wie geht es weiter?«
»Weiter?« Onkel George schüttelte den Kopf. »Es geht nicht weiter«, sagte er mit fester Stimme. »Das war die Geschichte.«
Piper rollte mit den Augen. »Das ist nie im Leben eine ganze Geschichte«, beschwerte sie sich. Das war vielleicht der Anfang einer Geschichte, mehr aber auch nicht. »Was ist mit dem Jungen passiert?«
»Er ist verschwunden.«
War das denn zu fassen? »Das ist alles?«
»Ganz schön unheimlich, was?!« Onkel George jedenfalls schien mit seiner Erzählung zufrieden zu sein.
Piper indes gab keine Ruhe. »Aber irgendjemand muss doch wissen, wo er abgeblieben ist.«
Onkel George schüttelte beharrlich den Kopf. »Er ist eines Tages in sein Zimmer gegangen und dann war er einfach fort.«
Meine Güte! »Das ist alles?«
»Die Familie ist schließlich fortgezogen. Kann mir gut vorstellen, wie sie sich gefühlt hat.«
Piper starrte ihn an. »Das ist doch kein richtiges Ende.«
»Aber genau so ist es passiert.«
Sie seufzte tief. »Das kann ja sein, aber…« Sie fragte sich, ob jemand Onkel George adoptiert hatte. Er war so ganz, ganz anders als ihre Mutter. Die beiden konnten unmöglich Geschwister sein.
Eine Weile saßen sie schweigsam da und aßen, während draußen der Wind leise heulte.
Onkel George schaute zum Fenster hinaus auf die Hügel. Schließlich sagte er: »Ich wollte dir mit der alten Geschichte wirklich keine Angst machen. Wenn du möchtest, dann hänge ich die Bilder ab.«
Piper schüttelte den Kopf. »Nein, schon okay. Sie sind eigentlich ganz nett.«
Onkel George nickte, stand auf und machte den Fernseher, der in der Küche stand, an. Er schaltete sich durch die Kanäle, bis er bei einer Dokumentation über das Brutverhalten der Möwen auf den Hebriden-Inseln hängen blieb. Piper schaute sich fünf Minuten lang steile Klippen, Felsen in der Brandung, landende und sich in die Luft erhebende Vögel und fleckige Eier in Nestern an. Sie dachte an ihre Eltern und daran, dass sie ja eigentlich nicht an ihre Eltern denken wollte. Dann gähnte sie laut.
»Du siehst sehr müde aus.« Onkel George folgte fasziniert dem waghalsigen Flug einer Möwe in einem aufziehenden Unwetter.
Piper konnte sich gut vorstellen, dass ihr Vater einen Ort wie den, an dem die Möwen nisteten, mochte. Dort gab es vermutlich keine Touristen, nur Möwen.
Sie wäre jetzt lieber dort gewesen. Auf einer Insel würde man eher ein Abenteuer erleben können als in Buckbridge, so viel war mal klar.
Piper zog ein Gesicht. Dann schob sie den Stuhl zurück und stand auf. »Ich geh dann nach oben«, sagte sie leise.
Onkel George murmelte etwas, das sie nicht verstand, und als die Möwe im Fernsehen endlich einen Fisch gefangen hatte und mit ihm zu ihrem Nest in den Klippen zurückflog, war Piper schon fort.
Zurück in ihrem Dachzimmer betrachtete sie erneut die gezeichneten Bilder an den Wänden. Was wohl mit dem Jungen passiert war, fragte sie sich.
Draußen legte sich sacht die Nacht aufs Dartmoor.
Piper schaltete die Stehlampe ein und wanderte rastlos im Zimmer umher. Sie hatte von unten die Stiefel und ihre Regenjacke mitgenommen. Jetzt legte sie alles in den Schrankkoffer hinein; man konnte ja nie wissen. Die Geschichte von dem verschwundenen Jungen spukte ihr die ganze Zeit im Kopf herum und ließ sie gar nicht zur Ruhe kommen.
Zu Hause würde sie jetzt ihre Mutter fragen, ob sie an ihren Computer dürfte. Dort fände sie bestimmt etwas darüber heraus.
Aber die Sache mit dem Internet konnte sie vergessen, auf alle Zeiten, tja, so sah es aus.
Stattdessen lauschte sie dem Regen, der draußen gegen das Fenster prasselte. Aber der Regen konnte ihr auch keine Antwort geben.
Wieder musste sie gähnen. Diesmal lautstark.
Im Schrankkoffer lag noch immer das alte Buch mit den bemalten Seiten.
Piper kletterte hinein, wickelte sich in die Decken und kuschelte sich tief in die Kissen. Wieder nahm sie das Buch und blätterte darin herum. Schließlich kehrte sie zur Landkarte auf der ersten Seite zurück.
Septemberland.
Ja, so hatte Mr Travis die Gegend auch bezeichnet.
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