Piratenbraut
Trekkingsandalen an den nackten Füßen in Günther Jauchs Talkrunde gesessen und während der Sendung getwittert.
In einer Stunde werden Journalisten zur Pressekonferenz hier in die Parteizentrale in Berlin-Mitte drängen. Doch auf den Tischen liegen noch angebissene Krapfen herum. Das Klo ist verstopft. Ein Hausmeister im Blaumann stapft durch den Raum. Im Nebenraum läutet ein Telefon. Und ich stehe in der Tür und möchte Piratin werden.
»Wo ist nur dieses Formular für den Mitgliedsantrag …« Der Glatzkopf stöbert in seinem Laptop. Auf diese Idee muss erst mal jemand kommen: in der Parteizentrale persönlich die Mitgliedschaft zu beantragen, obwohl man sich das Formular auch daheim aus dem Internet herunterladen kann. Ein jüngerer Pirat deutet auf einen Ikea-Schwingsessel, der verloren im Raum steht. »Setz dich doch.« Vom Sessel aus mustere ich den dunklen Erdgeschossladen.
Als ich vom S-Bahnhof bis in diese unscheinbare Seitenstraße gelaufen war, vorbei an der Großbaustelle für die neue BND -Zentrale, einem Surfbrett-Shop und der Endhaltestelle der Straßenbahn, da hatte ich mir natürlich keinen vielstöckigen Prachtbau vorgestellt, wie ihn sich CDU und SPD in die Hauptstadt gebaut haben, kein repräsentatives Atrium und keine Hostess im Business-Kostüm, die mich am Empfangstresen begrüßt. Aber das hier überrascht mich doch.
Die hohen Schaufenster sind dicht mit Plakaten beklebt. Zwischen zerwühltem Infomaterial verstaubt ein Modellpiratenschiff auf einem Abstelltisch. An der Wandtafel stehen noch die Ergebnisse der Landtagswahl im Saarland vor sechs Wochen: 7,4 Prozent für die Piraten – das war ein besseres Ergebnis, als die Grünen dort je erreicht haben. Und in diesem Ladenlokal eines Berliner Altbaus stapeln sich zusammengefaltete Klappstühle neben der Tür. Vorne am Eingang warnt ein handgeschriebener Zettel, keine Pakete mehr für Nachbarn anzunehmen. Neben dem Kopierer türmen sich Getränkekisten. Bin ich hier in einer Parteizentrale oder in einer Männer- WG ?
Endlich surrt im Nebenraum ein Drucker. »Du weißt, dass der Mitgliedsbeitrag gestiegen ist?« Der Kahlkopf drückt mir ein Blatt Papier in die Hand. »Kostet jetzt 48 Euro im Jahr statt 36 Euro.«
Dies sollte eigentlich ein großer Moment sein. Ich trete einer Partei bei. Zum ersten Mal in meinem Leben. Nicht etwa den Grünen, wie meine Eltern Ende der Siebziger, auch nicht der SPD , wie einige meiner Freunde vor Jahren – oder gar der FDP, wie Sascha, ein Kommilitone. Ich, Journalistin und Mutter zweier Kinder, möchte mit 37 Jahren Piratin werden. Doch niemand jubelt, keiner streckt mir die Hand entgegen, sagt höflich: Toll, dass du jetzt auch dabei sein willst! Oder gar: Willkommen an Bord! Beim Abschluss meines Handyvertrags war mehr Pathos in der Luft.
Dabei habe ich mir diesen Gang nicht leicht gemacht. Es dauerte Wochen, bis ich mich selbst überzeugt hatte: Jetzt wäre es an der Zeit. Die Piraten hatten in Umfragen gerade die Grünen überholt. In der Presse stritten sich Kommentatoren, ob diese Neuen mit ihrer »aggressiven Naivität« eine Gefahr für die Demokratie seien, wie die Welt behauptet, oder, wie die Frankfurter Rundschau schrieb, ein Segen, weil sie mehr »Innovation und Nachdenken über alternative Mechanismen der Demokratie« böten als alle anderen Parteien.
Seit ein paar Monaten spalteten die Piraten meinen Freundeskreis: Die einen vergötterten die 24-jährige Psychologiestudentin Marina Weisband, die bis vor Kurzem noch Politische Geschäftsführerin war, für ihre Klugheit und ihr rhetorisches Talent und sahen in ihr den »nächsten Joschka Fischer«. Die anderen verspotteten sie als »Prinzessin Lillifee mit Laptop«. Die eine Hälfte meines Freundeskreises vermutete bei den Piraten das größte innovative Potenzial innerhalb unseres Parteiensystems. Die andere Hälfte hielt die Neulinge, die sich in Talkshows setzten und auf Fragen des Moderators einfach »Keine Ahnung« antworteten, für eine riesige Luftnummer.
Ich selbst fand es überfällig, dass Politiker endlich mal ihre Ahnungslosigkeit gestanden. Mir kam es zeitgemäß vor, dass die Partei so postideologisch auftrat. Denn: Wer aus der Generation der unter 40-Jährigen mag sich noch klar auf eine parteipolitische Dogmatik festlegen?
Dann las ich einen Essay von Constanze Kurz, Sprecherin des Hacker-Vereins »Chaos Computer Club«, im Spiegel . »Ein Neumitglied der Piraten erlebt praktische Politik fundamental anders als
Weitere Kostenlose Bücher