Pitch (German Edition)
geglänzt, zum Beispiel war sie Hamlets Mutter
gewesen, und alle hatten sich vier Akte lang gefragt, wie man um
ihretwillen nur bereit sein könne, den eigenen Bruder
umzubringen, wenn es dafür nicht mehr als nur den Thron von
Dänemark zusätzlich gäbe, aber im fünften Akt,
als sie einer wieder mal beinahe magersüchtigen Ophelia Blumen
aufs Grab streute mit den Worten der Süßen Süßes vermochte sie diesen wenigen Zeilen eine Bedeutung zu verleihen,
die allen Zuschauern unmissverständlich klarmachte, dass sie das
dürre Gestänge niemals als Gattin ihres Sohnes würde
geduldet haben, dass sie gefährlich war, mächtig und
attraktiv, und man um ihretwillen durchaus auf Helsingör zu
morden bereit war, und genauso, schrecklich nämlich, war ihre
Lady Macbeth gewesen, die ihren Gatten zum Männchen degradierte,
zum Nebenröllchen, alles Rollen, mochte man sagen und sagte es
auch, die, zur Not, mit einer Frau ihres Formats noch angemessen
besetzt werden konnten, aber, beklagte sich manches Feuilleton, die
wahren großen Rollen des tragischen Fachs würden ihr auf
immer verwehrt bleiben, bloß um in der nächsten Spielzeit
erstaunt festzustellen, dass die inzwischen zur Mittvierzigerin
gereifte Frau nun gar die vierzehnjährige Julia würde
spielen sollen, natürlich war es eine recht avantgardistische
Inszenierung, die durchaus ihre komischen Momente hatte, aber die
Kritik mochte schreiben, was sie wollte, letztlich war das Experiment
geglückt und jeder hatte in der Dicken das wahre Wesen der Liebe
zu erkennen vermocht, tatsächlich, als fetteste Julia der ganzen
Welt hatte sie gezeigt, dass Liebe ein ungewöhnlich Ding ist,
die jedem zuteil zu werden verdient, und heute endlich, hier, in
diesem kleineren Stadttheater, an dem sie sich für ein, zwei
Spielzeiten vom Trubel der großen weiten Welt erholt, gibt sie
die Phädra, steht jetzt, nach der Aufführung in ihrer
Garderobe vor dem Spiegel, schminkt sich beim anregenden Duft
abbrennenden Zederholzes ab, und murmelt dabei, nur für sich, wie diese schwere Hüllen auf mir Lasten, der eitle Prunk,…
muss sich alles verschwören, mich zu kränken, mich zu
quälen und sich dies fragend, wischt sie das Make-up mit
Watte von den Wangen, die schwarzen Lidschatten mit Fett in den
weißen Puder und das Rouge reibend sieht sie aus, als hätte
sie geheult, noch dick beschmiert sind rot die wulstigen Lippen, so
reißt sie bauschige Wattedolche aus der Tüte, fasrig
ausgefranst, zu den Spitzen hin verjüngt, ihre linke Keule hat
sie in die Seite gestemmt, als würde ihr das Halt verleihen, da
klopft es an ihre Garderobentür, herrisch ruft sie, herein ,
und herein kommt Johannes Neuhäuser, im kleinen Gelben, nicht
mehr taufrisch, geschafft vom Tag, der ihn von ganz oben nach ganz
unten gespült hat, getrieben hat es ihn durch die ganze Stadt,
den frischgebackenen Vater, der, von seinen Kollegen unmittelbar vor
der Klinik ausgesetzt, jeden Umweg gegangen ist, um sich bloß
nicht der wissenden Mutter seines Kindes zu stellen, unübersehbar
die Lücke, die ein fehlender Knopf in sein Selbstwertgefühl
gerissen hat, Sturm und Drang seiner inneren Aufgewühltheit
haben ihn an die ogygischen Gestade von Mellies Garderobe
geschleudert, Trost sucht er, Trost bei Mellie, Trost bei Mama ,
denn so nennt er sie manchmal, so darf nur er sie nennen, und sie,
sie nennt ihn dann ihr Bübchen oder sogar, in
besonders zärtlichen Momenten, ihren Boubou , Boubou hat
sie auf einer Premierenfeier kennen gelernt, die er, wie so oft, ohne
Gattin besucht hat, Paradiesvogel war auf Paradiesvogel getroffen,
die ältere Dicke war sofort auf den jüngeren Dünnen
geflogen, der Schöne und das Biest, Monstrum würde sie
besser beschrieben haben, so war es gewesen und am Ende des Abends
hatten sie sich bereits göttlich amüsiert,
uneingeschränkten Zutritt zum Allerheiligsten hatte er daraufhin
erhalten und oft davon Gebrauch gemacht, vor der Vorstellung, in den
Pausen, danach, so auch jetzt, denn er weiß nicht, wohin mit
sich, nach Hause in die vereinsamte, verlassene Wohnung will er
nicht, ins Krankenhaus traut er sich nicht, gute Freunde hat er
nicht, also bleibt nur Mama, nicht die echte, eigene, die irgendwo
wohnt, sondern Mellie, die wirklich wahre, weil selbst gewählte
Ersatzmama, die sieht ihm auch gleich an, dass es ihrem Boubou gerade
gar nicht so gut geht und fragt ihn, was denn sei, doch Boubou
druckst herum, Krach in der Ehe, fragt die Dicke, Ärger bei der
Arbeit, Boubou zuckt mit
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