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Pittys Blues

Pittys Blues

Titel: Pittys Blues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Gaebel
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Sag mal, hast du überhaupt schon was gegessen?»Vera konnte minutenlang reden, ohne zwischendurch Luft holen zu müssen.
    Dick winkte nur kurz ab.
    Mort Cassis, der Jäger, war ein sechs Fuß großer Kerl mit Flanellhemd, Hosenträgern und knallrotem Haar. Er stand links neben Vera, putzte seine triefende Nase und machte ein gequältes Gesicht. Die beiden verband so etwas wie liebende Abneigung: Sie mochten sich schon irgendwie, kamen aber nicht miteinander aus. Trotzdem sah man sie immer zusammen. Und sie nutzten jede Gelegenheit, ihre Launen aneinander auszulassen:«Vera, heißt es nicht, dass die Stimme von dicken Menschen durch ihren Körper an Volumen gewinnt und unglaublich schön anzuhören ist? Warum ist das bei deiner nicht so?»
    «Weil ich nicht dick bin. Ich bin gut gebaut.»
    «Ja, sicher, wenn du meinst.»
    «Ach, halt die Klappe, Mort.»
    Dick ging kommentarlos an Vera und Mort vorbei und drängte sich durch den Haufen Menschen, der sich vor ihm teilte, als wäre er Moses persönlich. Niemand
sagte ein Wort, einige sahen ihn aufmunternd an, andere schauten auf den immer weißer werdenden Boden zu ihren Füßen.
    Vor dem Wagen stand Jones. Jones hatte Dick an seinem zehnten Geburtstag gezeigt, wie man die großen Ameisen essen konnte, ohne dass sie einen in die Zunge zwickten, und hatte später seine Aufklärung übernommen. Wichtige Sachen halt. Er klopfte Dick mit seiner prankengleichen Hand kurz und väterlich auf die rechte Schulter und zwinkerte ihm aufmunternd zu. Aber auch er sagte Dick nicht, dass da jemand in seinem Wagen lag, den keiner von ihnen kannte.
    Sie hatten sich alle um den Wagen versammelt, es aber vermieden, die junge Frau zu wecken, sei es wegen Simmons’ Hexenmär oder weil sie einen Sinn für Dramatik hatten.
    Da stand Dick. Das Grummeln in seinem Magen hatte sich auf den letzten Metern zu einem Röhren gesteigert, und er fühlte sich seltsam schwach, als er die Hand ausstreckte, um den im Laufe der Jahre blasig gewordenen Lack zu berühren. Elliot und er hatten damals den Pick-up gefunden auf einem ihrer Streifzüge.
    Und dann, kurz darauf, hatte sein kleiner Bruder leblos im Pick-up gelegen. Dick und er hatten sich wegen des Autos gestritten, sich windelweich geprügelt, wie Brüder das eben tun-aber Dick war der Ältere, er hätte bedachter und nicht so aufbrausend sein sollen.
    Es hatte damit angefangen, dass Elliot auf dem Fahrersitz hatte sitzen wollen. Dick wollte das nicht. Das lag daran, dass er es für das Recht des Erstgeborenen hielt,
überall zuerst hinzugehen, seine Nase zuerst in Dinge zu stecken, die die Brüder nichts angingen, und - natürlich - zuerst auf dem Fahrersitz des Pick-ups zu sitzen, weil da immerhin das Lenkrad war.
    Er hatte Elliot noch in den Büschen verschwinden sehen, sich den linken Arm haltend und mit leichter Schlagseite. Dick hatte ihm richtig einen verpasst. Mit dem Verschwinden des kleinen Bruders war seine Wut verblasst und Selbstvorwürfen gewichen. Er wartete, aber Elliot blieb verschwunden. Der kleine Bruder tauchte an dem Tag nicht mehr lebendig auf. Dick war der festen Überzeugung, er habe seinen Bruder totgeprügelt. Er war sich sicher, dass Elliot den Verletzungen, die er ihm zugefügt hatte, erlegen war.
    Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Dick wieder den Berg von Schuld auf sich lasten. Er hatte Jahre gebraucht, um den Tod seines kleinen Bruders zu verdauen. Und dass der Wagen dann auf einmal verschwunden war, hatte ihm sehr geholfen.
    Es ging ihm wieder gut. Bis dieser verdammte Schnee und mit ihm der Wagen gekommen war und das Wäldchen einen Vorhang wieder aufzog und einen Blick in die Tiefe der Vergangenheit zuließ. Jetzt war es so weit. Dick stand mit Tränen in den Augen vor seinem Pick-up.
    Dick glaubte nicht, was er sah, als er den ersten Blick in den Innenraum seines Pick-ups wagte. In seinem Pick-up lag, eingewickelt in ein kariertes Wollplaid, eine junge Frau. Er hatte sie noch nie gesehen, aber ihr Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor.
    Das war Pitty. Und Pitty schlief.
Die meisten Menschen wissen erst sehr viel später, dass es genau dieser eine Moment ist, der ihr gesamtes Leben verändert hat. Bis auf Pitty. Pitty wusste es vorher.
    Pitty Pruitt war einen halben Tagesmarsch entfernt von Rickville aufgewachsen. Sie war das jüngste der fünf Kinder von Claude und Jenna-Mae Pruitt. Claude hatte die kleine Farm der Familie dem Leibhaftigen bei einem Pokerspiel abgezockt. Jedenfalls behauptete das der alte

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